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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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<strong>Die</strong> wirklich gewesene Person hat ein nie erlöschendes Menschenrecht auf ihr Wesen <strong>und</strong> ihre Erscheinung.<br />

Also, eine Art Übereinstimmung des Autors mit der wirklich gewesenen Person sei <strong>die</strong> Bedingung. Sei <strong>die</strong><br />

nicht gegeben, triumphiere <strong>die</strong> Manier des Autors über <strong>die</strong> historische Sache. Dann soll er sie aber doch<br />

gleich lassen, <strong>die</strong> historische Sache, <strong>und</strong> sich, wie gewohnt, selber in Szene setzen. Dann stimmen nämlich<br />

Sache <strong>und</strong> Manier wieder überein. (S. 219f)<br />

Es ist offensichtlich, daß der Erzähler <strong>die</strong> „Vize-Oma“ zu seinem Sprachrohr macht. Durch<br />

ihre Worte beansprucht er, eine Übereinstimmung der „Manier“ mit der „Sache“ herstellen zu<br />

können. Um <strong>die</strong> Repräsentationslogik deutlich zu machen, <strong>die</strong> hinter <strong>die</strong>sem Anspruch steckt,<br />

müssen wir kurz <strong>die</strong> Geschichte des Begriffs „Manier“ rekapitulieren.<br />

In der frühen italienischen Renaissance erschien der Begriff „maniera in einem Kontext<br />

von generischen Typen, Modellen, Erlernbarkeit, Imitation <strong>und</strong> Regeln“ 1 . Aber bereits im 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, bei Giorgio Vasari, nahm der Begriff <strong>die</strong> Bedeutung der schöpferischen<br />

Individualität an, <strong>die</strong> sich durch ihre Teilhabe am platonischen Ideenhimmel ihre eigenen<br />

Regeln der Kunstproduktion schafft. 2 Später noch wurde <strong>die</strong> Manier zum Prädikat solcher<br />

Darstellung, in der <strong>die</strong> Individualität des Künstlers sich zur Geltung bringt, ohne <strong>die</strong><br />

Wirklichkeit des Phänomens <strong>und</strong> sein wahres Wesen darstellen zu können. In <strong>die</strong>ser<br />

Bedeutung wird der Begriff „Manier“ auch heute verwendet. <strong>Die</strong>se Begriffsbedeutung wurde<br />

durch <strong>die</strong> Literatur der deutschen Klassik <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> deutsche idealistische Philosophie<br />

endgültig festgeschrieben. Der Gegenpol der Manier heißt bei Goethe Stil, bei Hegel<br />

Individualität. <strong>Die</strong>se zwei Begriffe bezeichnen das Nämliche: „<strong>die</strong> Vollendung der Kunst in<br />

der Erfüllung ihrer kognitiven Funktion“ 3 . <strong>Die</strong>se Vollendung ist dann erreicht, wenn <strong>die</strong> Kluft<br />

zwischen der Subjektivität des Künstlers <strong>und</strong> dem Objekt seiner Darstellung geschlossen<br />

wird, wenn <strong>die</strong> subjektive „Manier“ sich in den <strong>Die</strong>nst der sachgemäßen Darstellung der<br />

„Sache“ stellt. Unter Verwendung der Goetheschen Begriffe „Manier“ <strong>und</strong> „Styl“ schreibt<br />

Friedrich Theodor Vischer in seiner Aesthetik <strong>die</strong>ses Konzept fort. 4 Hegel nun sagt in seinen<br />

Vorlesungen über <strong>die</strong> Ästhetik:<br />

Denn <strong>die</strong> Manier betrifft nur <strong>die</strong> partikulären <strong>und</strong> dadurch zufälligen Eigentümlichkeiten des Künstlers, <strong>die</strong><br />

statt der Sache selbst <strong>und</strong> deren idealer Darstellung in der Produktion des Kunstwerks hervortreten <strong>und</strong> sich<br />

geltend machen. 5<br />

Wenn <strong>die</strong> „Vize-Oma“ <strong>die</strong> subjektive „Manier“ des Schriftstellers zur adäquaten<br />

Darstellungder „historische[n] Sache“ befähigt, scheint sie Hegel direkt zu zitieren. Sie macht<br />

sich somit eine Gr<strong>und</strong>annahme seiner Erkenntnistheorie zu eigen, <strong>die</strong> Identitätsphilosophie.<br />

<strong>Die</strong>se nimmt an, daß <strong>die</strong> Struktur der menschlichen Vernunft mit der Struktur der<br />

Wirklichkeit gr<strong>und</strong>sätzlich identisch ist. Wenn man von <strong>die</strong>ser Annahme ausgeht, klafft auch<br />

zwischen der Darstellung <strong>und</strong> dem Darzustellenden keine Kluft mehr.<br />

1 Ursula Link-Heer, „Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier <strong>und</strong> Stil (Vasari, Diderot, Goethe)“,<br />

in: Hans Ulrich Gumbrecht – K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.), Stil. Geschichten <strong>und</strong> Funktionen eines<br />

kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1986, S. 93 – 114, hier 94. Kursiv im<br />

Original.<br />

2 Ibidem, S. 100f.<br />

3 Hans Ulrich Gumbrecht, „Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs“, in: ders.<br />

– Pfeiffer, o. c., S. 726 – 788, hier 758. Kursiv im Original.<br />

4 Vgl. Heinrich Niewöhner, „Einfache Nachahmung der Natur, Manier <strong>und</strong> Stil“. Gr<strong>und</strong>begriffe der Poetik <strong>und</strong><br />

Ästhetik, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris: Peter Lang, 1991, S. 162 – 164.<br />

5 Zit. nach: Gumbrecht, o. c., S. 759. Kursiv im Original.<br />

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