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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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stellt <strong>die</strong>sen Verlust als gleichsam notwendige Folge der Zugehörigkeit zur Wasserburger<br />

Dorfgemeinschaft dar. <strong>Die</strong> Unfähigkeit zur politischen Reflexion hindert <strong>die</strong> Wasserburger<br />

daran, in dem Nationalsozialismus rechtzeitig eine totalitäre Bewegung zu erkennen. Das<br />

heißt aber nicht, daß sie selbst mit dem Nationalsozialismus sympathisieren. Sie können bloß<br />

nicht verhindern, daß <strong>die</strong> NS-Diktatur von außen nach Wasserburg ´importiert´ wird.<br />

Indem der Roman Wasserburg als Gegenwelt des nationalsozialistischen Deutschland<br />

darstellt, verwickelt er sich in einen Widerspruch. Der Erzähler möchte Wasserburg einerseits<br />

als ´kleine Welt´ darstellen, als „Mikrokosmos, der symbolisch <strong>die</strong> ganze Welt spiegeln soll“<br />

(Mecklenburg). Aber er stellt Wasserburg vielmehr als ´heile Welt´ dar, als Alternative zum<br />

nationalsozialistischen Deutschland. Er präsentiert einen alternativen Geschichtsentwurf zu<br />

jenem Abschnitt der deutschen Geschichte, durch den <strong>die</strong> Bildung der deutschen nationalen<br />

Identität zum Teil bis heute behindert wird.<br />

Abschließend versuchen wir unsere Lektüre der Novelle Dorle <strong>und</strong> Wolf, des Romans <strong>Die</strong><br />

Verteidigung der Kindheit <strong>und</strong> des Romans Ein springender Brunnen auf einen gemeinsamen<br />

Nenner zu bringen. Wir möchten in <strong>die</strong>sem Zusammenhang jedoch an „S. Kracauers<br />

melancholisches Wort“ erinnern, „das Detail komme immer nur beschädigt an <strong>die</strong><br />

Oberfläche“. 1 In <strong>die</strong>sem Sinne können wir feststellen: <strong>Die</strong> Semantik der untersuchten<br />

Erzählwerke durchzieht in unterschiedlicher Weise der Riß zwischen objektiver Re-<br />

Präsentation <strong>und</strong> subjektiver <strong>Konstruktion</strong> des Sinns. <strong>Die</strong>sen Riß haben wir in verschiedenen<br />

Abwandlungen auch in <strong>Walsers</strong> Essaywerk entdeckt.<br />

In der Novelle Dorle <strong>und</strong> Wolf ist es der Riß zwischen der personalen Identität, <strong>die</strong> durch<br />

<strong>die</strong> Zugehörigkeit zur Nation bestimmt wird, <strong>und</strong> der ästhetisch konstruierten personalen<br />

Identität. <strong>Die</strong>ser Riß geht durch <strong>die</strong> Hauptfigur der Novelle. Ihre nationale Identität wird in<br />

der Novelle normativ gesetzt, sie wird nicht als Identitätskonstruktion gekennzeichnet.<br />

<strong>Die</strong>jenige personale Identität, <strong>die</strong> sich <strong>die</strong>se Figur in dem „ästhetischen Zustand“ (Schiller)<br />

erarbeitet, wird hingegen als Identitätskonstruktion gekennzeichnet. In dem „ästhetischen<br />

Zustand“ sind <strong>die</strong> normativ vorgegebenen nationalen Identitätsinhalte für <strong>die</strong> Hauptfigur nicht<br />

relevant.<br />

Den Roman <strong>Die</strong> Verteidigung der Kindheit durchzieht der Riß zwischen mimetischer<br />

Repräsentation des Leidens deutscher Figuren <strong>und</strong> erzählerischer <strong>Konstruktion</strong> des Leidens<br />

jüdischer Figuren. Wenn über das deutsche Leiden erzählt wird, wird der Anspruch auf<br />

Wirklichkeitstreue erhoben. <strong>Die</strong> Erzählung über das jüdische Leiden im Dritten Reich wird<br />

als Erzählkonstruktion gekennzeichnet. <strong>Die</strong>ser Riß geht also nicht – wie in Dorle <strong>und</strong> Wolf –<br />

durch <strong>die</strong> Hauptfigur, sondern durch das ganze Romanpersonal. Er teilt <strong>die</strong> Romanfiguren in<br />

zwei Gruppen, je nachdem, ob sie Deutsche oder Juden sind.<br />

Den Roman Ein springender Brunnen durchzieht der Riß zwischen der kollektiven<br />

Identität einer kleinen Dorfgemeinschaft <strong>und</strong> der individuellen Identität der Hauptfigur. Auch<br />

<strong>die</strong>ser Riß geht also durch das Personal des Romans: er stellt <strong>die</strong> Hauptfigur des Romans<br />

seinen Nebenfiguren entgegen.<br />

1 Wolfgang Preisendanz, „Der Funktionsübergang von Dichtung <strong>und</strong> Publizistik bei Heine“, in: Hans Robert<br />

Jauß (Hrsg.), <strong>Die</strong> nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München: Fink, 1983, S. 343<br />

– 374, hier 361.<br />

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