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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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1986 annoncierte er einen Roman mit dem „Arbeitstitel: Der Eintritt meiner Mutter in <strong>die</strong><br />

Partei“.<br />

Wenn es mir gelänge zu erzählen, warum sie in <strong>die</strong> Partei eingetreten ist, dann hätte ich <strong>die</strong> Illusion, ich hätte<br />

erzählt, warum Deutschland in <strong>die</strong> Partei eingetreten ist. 1<br />

In seiner 1988 gehaltenen Rede Über Deutschland knüpfte Walser an <strong>die</strong> Überlegungen<br />

an, <strong>die</strong> er in seinem Essay Hamlet als Autor über <strong>die</strong> Unvereinbarkeit der eigenen Erinnerung<br />

mit dem offiziell sanktionierten Geschichtsnarrativ der NS-Zeit anstellte. Doch <strong>die</strong>smal<br />

machte er nicht <strong>die</strong>se Unvereinbarkeit selbst zum Gegenstand seiner Reflexionen. An <strong>die</strong><br />

Stelle der modernen Reflexion der Unerzählbarkeit ließ er nun eine postmoderne Erzählung<br />

treten, <strong>die</strong> sich an der eigenen Partialität nicht stört, weil sie um <strong>die</strong> Partialität aller<br />

Erzählungen weiß. (Solche postmoderne Erzählung setzt stillschweigend voraus, daß alle<br />

Erzählungen gleich partiell sind.) <strong>Die</strong> postmoderne Annahme völliger Gleichwertigkeit<br />

verschiedener Perspektiven ermöglichte Walser jetzt das ungebrochene Bekenntnis zu seiner<br />

eigenen Perspektive auf <strong>die</strong> NS-Zeit.<br />

Ein Sechs- bis Achtzehnjähriger, der Auschwitz nicht bemerkt hat. […] Das erworbene Wissen über <strong>die</strong><br />

mordende Diktatur ist eins, meine Erinnerung ist ein anderes. Allerdings nur so lange, als ich <strong>die</strong>se<br />

Erinnerung für mich behalte. […] Ich habe nicht den Mut oder nicht <strong>die</strong> Fähigkeit, Arbeitsszenen aus<br />

Kohlenwaggons der Jahre 1940 bis 43 zu erzählen, weil sich hereindrängt, daß mit solchen Waggons auch<br />

Menschen in KZs transportiert worden sind. Ich müßte mich, um davon erzählen zu können, in ein<br />

antifaschistisches Kind verwandeln. Ich müßte also reden, wie man heute über <strong>die</strong>se Zeit redet. […]<br />

Vergangenheit von heute aus gesehen – kann es etwas Überflüssigeres geben? Etwas Irreführenderes sicher<br />

nicht. 2<br />

Insofern als <strong>die</strong> eigene Perspektive durch das nachträglich erworbene Wissen verstellt wurde,<br />

soll <strong>die</strong>se Verstellung wieder rückgängig gemacht werden. Das soll durch einfühlende<br />

Rekonstruktion früherer Erlebnisweisen erreicht werden, <strong>die</strong> lediglich jene Sinnhorizonte in<br />

den Blick nimmt, <strong>die</strong> aus der Perspektive des jugendlichen <strong>Martin</strong> Walser auch sichtbar<br />

waren. Walser redet über den „Mut“, den man brauche, um über seine Erinnerung an <strong>die</strong> NS-<br />

Zeit zu erzählen. 1965 begründete er seine Weigerung, über seine Jugend im Dritten Reich zu<br />

erzählen, noch mit dem Gebot, <strong>die</strong> Unvereinbarkeit seiner eigenen Erinnerung mit dem<br />

kollektiven Gedächtnis zu reflektieren. 1988 begründet er <strong>die</strong>se Weigerung mit der Angst vor<br />

diskurspolizeilichen Eingriffen. Das Unerzählbare ist wieder erzählbar geworden, aber noch<br />

nicht gesellschaftsfähig.<br />

<strong>Die</strong> Erinnerung des späten <strong>Martin</strong> Walser kombiniert das postmoderne Bekenntnis zur<br />

eigenen Perspektive mit dem vormodernen Glauben, das Erlebte nacherzählen <strong>und</strong> es auf den<br />

ihm immanenten Sinn hin interpretieren zu können. Wenn der späte Walser sich erinnert,<br />

begrüßt er einen Aspekt der dezentrierten Vernunft: ihre Perspektivierung. Er negiert den<br />

anderen wichtigen Aspekt <strong>die</strong>ser Dezentrierung, nämlich <strong>die</strong> Temporalisierung der Vernunft<br />

(siehe auch das Kapitel 1.1.1.).<br />

des Schriftstellers <strong>Martin</strong> Walser“, in: FAZ, 3. 7. 1999, S. I, <strong>und</strong> Volker Hage, „Königssohn von Wasserburg“,<br />

in: Der Spiegel 31/1998, S. 148 – 150, hier 148f.<br />

1 Siblewski, Auskunft, S. 217.<br />

2 Walser, „Über Deutschland reden“, S. 896f.<br />

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