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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Er kann nie genug kriegen von der Vergangenheit. Er ist aber nicht auf Vergangenheitsbesitz aus. Er fängt<br />

immer etwas an mit dem, was er weiß. Er handelt also. Und in seiner andauernd unser Dasein als<br />

geschichtliches auslegenden Handlung gibt es keine Fach- oder Sprachgrenzen. […] Ohne ihn <strong>und</strong> ohne<br />

solche wie ihn verkäme Geschichte zum Archiv. […] Aber da nie das dominiert, was er erzählt, sondern<br />

immer <strong>die</strong> Laune des Erzählers, wird uns Zuhörern das Zuhören leicht. […] Humor, Zorn <strong>und</strong> Spott sind,<br />

glaube ich, <strong>die</strong> Kraftquellen <strong>die</strong>ses Erzählers […] seine universale Aktualisierungskapazität […] 1<br />

Der Gratulant Walser schreibt dem emeritierten Konstanzer Ordinarius genau <strong>die</strong> Fähigkeit<br />

zu, <strong>die</strong> der Erzähler der Verteidigung Alfred Dorn abspricht: <strong>die</strong> Geschichte <strong>und</strong> <strong>die</strong> eigene<br />

Lebensgeschichte sinnhaft <strong>und</strong> erzählbar zu machen. <strong>Die</strong>se Fähigkeit bildet <strong>die</strong><br />

Voraussetzung dafür, daß das Vergehen der Zeit überhaupt auf Fortschritt <strong>und</strong> Sinnzuwachs<br />

hin interpretiert werden kann. Sie bildet <strong>die</strong> Voraussetzung dafür, daß einzelne Geschichten<br />

zu einer Geschichte integriert werden können. Ohne <strong>die</strong>se Integrationsleistung<br />

exemplifizieren einzelne Erscheinungen nur <strong>die</strong> Vergänglichkeit alles Irdischen, den Zyklus<br />

von Entstehen, Hochzeit <strong>und</strong> Niedergang, mit dem <strong>die</strong> göttliche Konstanz kontrastiert werden<br />

kann. <strong>Die</strong>se zyklische „Strategie der Dauer“ (Aleida Assmann) war in Europa vor Mitte des<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>erts allgemein verbreitet. Sie hat ihre eigene Topik entwickelt, <strong>die</strong> bis heute<br />

wirksam ist. <strong>Die</strong> vielleicht wichtigste Metapher <strong>die</strong>ser Topik war <strong>die</strong> des nagenden Zahns der<br />

Zeit, <strong>die</strong> in der Physik des Aristoteles zum ersten Mal verwendet wurde. 2 Mit Alfreds<br />

ständiger „Angst“ um seine Zähne (S. 125 <strong>und</strong> 207) wird gerade <strong>die</strong>se topische Metapher<br />

abgerufen.<br />

Zukunft war für ihn nur eine ins Unerträgliche gesteigerte Fortsetzung der Gegenwart: fortgeschrittener<br />

Zerfall, den er an Haaren <strong>und</strong> Zähnen […] immer schon erlebte […] In jedem Augenblick konnte <strong>die</strong> Angst<br />

vor dem Verfall ausbrechen, der Schrecken, den das Vergehen weckt. Der 13. Februar 1945. Das war immer<br />

der Tag, in dem er landete. Oft verfiel er dann in ein Weinen, bei dem er sich vorkam wie ein kleines Kind.<br />

(S. 198)<br />

Das Bemühen, <strong>die</strong> Vergangenheit zu bewahren, bestimmt auch Alfreds Verhältnis zu<br />

historischen Sehenswürdigkeiten. Bei einem Besuch in der Heimat regt sich Alfred darüber<br />

auf, daß „in Dresden <strong>die</strong> letzte historische Bausubstanz der Großen Meißner Gasse<br />

weggesprengt werde, weil man sich von Japanern ein Luxushotel bauen lassen wolle“ (S.<br />

454). Genau das hat schon Dr. Meißner in der Novelle Dorle <strong>und</strong> Wolf bedauert (dort S. 27).<br />

Als Alfred in Wiesbaden das Dezernat für Denkmalschutz übertragen wird, kann er auch von<br />

Amts wegen gegen „<strong>die</strong> Ausrottung der Vergangenheit durch rücksichtslose Industrie-<br />

Expansion“ (S. 451f) kämpfen.<br />

Daß Alfred „nie etwas geschrieben, immer nur notiert“ (S. 13) hat <strong>und</strong> „das Bewahren<br />

selbst“ für ihn „das Wichtigste“ (S. 366) geblieben ist, scheint jedoch nicht an einer<br />

lebenslangen Traumatisierung durch den Luftangriff zu liegen. Das traumatische Gedächtnis<br />

ist ein unbewußtes. Es ist ´mimetischer´ als das gewöhnliche Gedächtnis, weil es das<br />

Erinnerte nicht so sehr verformt. Der Preis für <strong>die</strong>se ´mimetische´ Repräsentation des einmal<br />

Erlebten ist, daß sie dem Bewußtsein nicht zugänglich ist. Sie bleibt dem Unbewußten<br />

verhaftet <strong>und</strong> wird lediglich in Symptomen ausagiert. 3<br />

1<br />

<strong>Martin</strong> Walser, „Eine Publikumsstimme für Manfred Fuhrmann“, in: ders., Geburtstagsschrei, Eggingen:<br />

Edition Klaus Isele, 1997, S. 81 – 83, hier ibidem.<br />

2<br />

Vgl. Aleida Assmann, Zeit <strong>und</strong> Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln: Böhlau, 1999, S. 51.<br />

3<br />

Vgl. Manfred Weinberg, „Trauma – Geschichte, Gespenst, Literatur – <strong>und</strong> Gedächtnis“, in: Elisabeth Bronfen<br />

– Birgit R. Erdle – Sigrid Weigel (Hrsg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse <strong>und</strong> kulturellem Deutungsmuster,<br />

Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 1999, S. 173 – 206.<br />

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