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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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über seine DDR-Vergangenheit aussagte. Zugleich läßt sich das einhändige Klavierspiel<br />

symbolisch lesen, es macht <strong>die</strong> deutsche Teilung in einem Alltagsdetail faßbar. Wolfs<br />

Entscheidung, in <strong>die</strong> BRD zu gehen <strong>und</strong> sich dabei als Mitarbeiter des ostdeutschen<br />

Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) anwerben zu lassen, fällt recht zufällig (S. 44). Auch<br />

damit wird ein häufiges Strukturmerkmal der novellistischen Komposition wiederholt, das<br />

„Fatum des Ereignisses“ 1 , das <strong>die</strong> Handlung der Novelle erst auslöst.<br />

Fernerhin kann man <strong>die</strong> Schilderung der Gerichtsverhandlung, in der Wolf für seine<br />

Spionage zu fünf Jahren Haft verurteilt wird, als Sanktionierung der Formel lesen, <strong>die</strong> Novelle<br />

sei <strong>die</strong> „´Schwester des Dramas´“ 2 . Wolfs Anwalt personifiziert <strong>die</strong> Justiz als „Theatergöttin“<br />

(S. 121), redet von der „Tragö<strong>die</strong> des gespaltenen Deutschland“ (S. 161) <strong>und</strong> ist „befangen in<br />

seiner Rollenroutine“ (S. 129). Ebenfalls <strong>die</strong> Staatsanwältin inszeniert „täglich[]“ ihren<br />

„Auftritt“ (S. 126). <strong>Die</strong> ganze Gerichtsverhandlung wird in der Novelle in einem Stil<br />

dargeboten, der an <strong>die</strong> Dialoge <strong>und</strong> Regieanweisungen der Dramen erinnert.<br />

Schließlich gilt es darauf aufmerksam zu machen, daß <strong>die</strong> Novelle bestimmte Elemente<br />

ihrer ersten <strong>und</strong> zweiten Hälfte aufeinander bezieht. Solche „´Zweiteiligkeit´“, <strong>die</strong> über<br />

motivische Korrespondenzen vermittelt wird, wurde traditionell zum „´primäre[n]<br />

Strukturprinzip der deutschen Novelle´“ erklärt. 3 Der Punkt, um den <strong>die</strong> korrespon<strong>die</strong>renden<br />

Motive (S. 36 <strong>und</strong> 92, 48 <strong>und</strong> 96, 57 <strong>und</strong> 102) symmetrisch angeordnet sind, ist exakt in der<br />

Mitte der Novelle eingelagert. Er stellt zugleich den „Wendepunkt“ (Ludwig Tieck) der<br />

Novelle dar: Wolf entscheidet sich dazu, sich als Ostspion den b<strong>und</strong>esdeutschen Behörden<br />

auszuliefern (S. 88). Er möchte dadurch seinem „Weder-Noch“-Dasein (S. 52) ein Ende<br />

setzen, dem Zustand, in dem er zwischen der geliebten Ehefrau <strong>und</strong> seiner Mission für das<br />

MfS hin- <strong>und</strong> hergerissen wird. Er trifft <strong>die</strong> Entscheidung, sich zu stellen, nachdem er<br />

„fasziniert“ (S. 88) zugeschaut hat, wie zwei Frauen ihrer sexuellen Lust freien Lauf lassen.<br />

Der „Sechsuhrglockenschlag“, der danach folgt, <strong>und</strong> der Wechsel des Erzählers ins<br />

historische Präsens weisen nach Helmut Peitsch <strong>die</strong>se Handlungssequenz als<br />

„Schlüsselszene“ 4 aus. Sie schreibt <strong>die</strong> Dichotomie der männlichen Kultur <strong>und</strong> der weiblichen<br />

Natur fort, von der <strong>die</strong> abendländische Geistesgeschichte von ihrem Anfang an begleitet wird;<br />

an anderer Stelle bezeichnet Wolf seine Sekretärin als „Naturereignis“ (S. 51) <strong>und</strong> der<br />

Erzähler das Weinen von Wolfs Frau als „Naturkatastrophe“ (S. 109). 5 In dem Wendepunkt<br />

nimmt der Mythos der besonderen weiblichen Nähe zur Natur konkrete körperliche Gestalt<br />

an. Der Darstellungsmodus ist wieder – im Sinne der klassischen Ästhetik – symbolisch. Das<br />

Transzendente oder Unendliche wird in einer Erscheinung des Endlichen unmittelbar<br />

anschaubar gemacht, ohne in <strong>die</strong>ser Erscheinung je ganz gefaßt werden zu können. 6 Man<br />

1<br />

Winfried Fre<strong>und</strong>, „Einleitung. ´… <strong>und</strong> ob es eine Tat war oder nur ein Ereignis,…´ Ein Versuch über <strong>die</strong><br />

Novelle“, in: ders., o. c., S. 7 – 13, hier 7.<br />

2<br />

Zit. nach: Karl Konrad Polheim, Novellentheorie <strong>und</strong> Novellenforschung. Ein Forschungsbericht 1945 – 1964<br />

(Erweiterter Sonderdruck der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft <strong>und</strong> Geistesgeschichte.<br />

Sonderheft Oktober 1964), Stuttgart: Metzler, 1965, S. 53. <strong>Die</strong> Novellistik <strong>und</strong> <strong>die</strong> Dramatik sieht auch Walser<br />

eng benachbart, vgl. Siblewski, Auskunft, S. 249.<br />

3<br />

Vgl. Aust, Novelle, S. 45.<br />

4<br />

Helmut Peitsch, „Vom Preis nationaler Identität. Dorle <strong>und</strong> Wolf“, in: Doane – Pickar, o. c., S. 172 – 188, hier<br />

173.<br />

5<br />

Zu <strong>Walsers</strong> Imaginationen des Weiblichen vgl. weiterführend Synnöve Clason, „<strong>Martin</strong> Walser:<br />

Gesellschaftsbild <strong>und</strong> Frauenbild“, in: <strong>die</strong>s., Der andere Blick. Stu<strong>die</strong>n zur deutschsprachigen Literatur der 70er<br />

Jahre, Stockholm: Almquist & Wilesell International, 1988, S. 124 – 135, <strong>und</strong> Gisela Ecker, „Wo alle einmal<br />

waren <strong>und</strong> manche immer bleiben wollen: Zum Beispiel Viebig, Beig <strong>und</strong> Walser“, in: <strong>die</strong>s. (Hrsg.), Kein Land<br />

in Sicht. Heimat – weiblich?, München: Fink, 1997, S. 129 – 142.<br />

6<br />

In <strong>die</strong>sem Sinne wird der Symbolbegriff auch weiterhin verwendet.<br />

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