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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Leiden unter dem NS-Regime <strong>und</strong> unter der deutschen Teilung. Der Roman kombiniert<br />

verschiedene Strategien, um mit seiner Erzählung über den Dresdner Alfred Dorn den<br />

´realistischen Effekt´ (Roland Barthes) zu erzielen. <strong>Die</strong>se Erzählung hält <strong>die</strong> Erinnerung an<br />

<strong>die</strong> deutsche Opfererfahrung wach. Sie entwirft ein kollektives Gedächtnis, das man mit<br />

Aleida Assmann als Opfergedächtnis bezeichnen kann. <strong>Die</strong> Deutschen erscheinen als Opfer<br />

der nationalsozialistischen Herrschaft, des alliierten Bombenterrors <strong>und</strong> der Willkür der<br />

Siegermächte, <strong>die</strong> miteinander auf deutschem Boden Kalten Krieg führen.<br />

Wenn der Roman <strong>Die</strong> Verteidigung der Kindheit über das deutsche Leiden erzählt,<br />

versucht er beim Leser den ´realistischen Effekt´ zu erzielen. Dadurch erhebt er <strong>die</strong> „alte<br />

Romanforderung des ´So ist es´“ (Theodor W. Adorno). Wenn der Roman über das jüdische<br />

Leiden im Dritten Reich erzählt, wird <strong>die</strong>se Forderung fallengelassen. <strong>Die</strong> jüdischen<br />

Leidensgeschichten werden als individuelle Erzählkonstrukte kenntlich gemacht, <strong>die</strong> mit dem<br />

wirklichen jüdischen Leiden nichts zu tun haben.<br />

Somit wird <strong>die</strong> „alte Romanforderung des ´So ist es´“ in dem Roman je nach<br />

Erzählgegenstand zugleich bekräftigt <strong>und</strong> fallengelassen. In <strong>die</strong>sem Zugleich besteht der<br />

unauflösliche Selbstwiderspruch des Romans, den seine Komposition nicht mehr zu<br />

reflektieren scheint.<br />

Der Roman Ein springender Brunnen ist ein Erinnerungsroman, dessen Handlung sich in<br />

der deutschen Provinz zur Zeit des Nationalsozialismus abspielt. Auch <strong>die</strong>ser Roman<br />

kombiniert verschiedene Strategien, um beim Leser den ´realistischen Effekt´ zu erzielen. Der<br />

Leser soll <strong>die</strong> Erzählung darüber, wie der Hauptheld Johann in Wasserburg am Bodensee zum<br />

Schriftsteller heranreift, auf <strong>die</strong> Jugendzeit des Autors Walser beziehen.<br />

<strong>Die</strong> erzählte Erinnerung des Romans Ein springender Brunnen ist durch zwei verschiedene<br />

Kompositionsprinzipien strukturiert. Wir haben <strong>die</strong>se Kompositionsprinzipien mit Walter<br />

Benjamins Unterscheidung zwischen dem „Romancier“ <strong>und</strong> dem „Erzähler“ begrifflich<br />

gefaßt.<br />

Benjamins Romancier schildert im Bildungsroman <strong>die</strong> Genese einer individuellen Identität.<br />

In <strong>die</strong>sem Sinne ist Ein springender Brunnen zunächst als Bildungsroman zu lesen. Seine<br />

Hauptfigur Johann beginnt frühzeitig zu dichten, denn im Medium der Dichtung kann Johann<br />

seine personale Identität in freier Selbstbestimmung immer neu entwerfen. Johanns Dichtung<br />

ist durch Nietzsches ästhetische Lebensphilosophie inspiriert; sie kann somit der<br />

geschlossenen „Werkform entraten“, „weil sie eine Lebensform“ ist (Peter Bürger). Der<br />

Roman zeigt, wie Johanns ästhetische Lebensform durch den Nationalsozialismus <strong>und</strong> durch<br />

<strong>die</strong> christliche Religion bedroht wird. Der Nationalsozialismus <strong>und</strong> das Christentum<br />

erscheinen als inhaltlich verschiedene, aber in ihrem Herrschaftsanspruch analoge<br />

„Dispositive der Macht“ (Michel Foucault).<br />

Der Roman Ein springender Brunnen ist aber nicht nur von einem Romancier, sondern<br />

auch von einem Erzähler (Benjamin) geschrieben. Er ist ein modernes Epos, das <strong>die</strong> kollektive<br />

Identität einer Gemeinschaft konstruiert, indem es ihre Teilhabe an einem gemeinsamen<br />

Sprachidiom darstellt. <strong>Die</strong> Gemeinschaft, <strong>die</strong> das Epos Ein springender Brunnen darstellt, lebt<br />

in Johanns Heimatdorf Wasserburg. Es gehört dabei zur langen Gattungstradition des Epos,<br />

seinen Gestalten <strong>die</strong> Fähigkeit zur Reflexion ihrer kollektiven Identität abzusprechen. In<br />

<strong>die</strong>sem Sinne trägt auch Ein springender Brunnen <strong>die</strong> Merkmale der „Episierung als Negation<br />

von zentralen Zügen des neueren Romans wie Psychologisierung <strong>und</strong> Subjektivierung,<br />

Perspektivismus, Reflexivität <strong>und</strong> Intellektuallismus“ (Norbert Mecklenburg). Der<br />

Reflexionsverlust, den <strong>die</strong> Gestalten des Epos ´erleiden´, bedeutet in dem Epos Ein<br />

springender Brunnen zugleich einen Verlust der Fähigkeit zur politischen Reflexion. Walser<br />

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