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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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worden ist, wenig überraschend sein. Gilt doch Friedrich Nietzsche als der Wegbereiter der<br />

Postmoderne. Es bleibt dabei für unsere Argumentation unerheblich, ob das<br />

„´Fehlverständnis´“, das Walser Goethe zweifelsohne entgegenbringt, als Anxiety of Influence<br />

(Harold Bloom) mit erklärt werden kann. 1<br />

Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre will <strong>Martin</strong> Walser „wieder <strong>und</strong> wieder<br />

gelesen“ 2 haben. Dabei bleibt seine Interpretation <strong>die</strong>ses Romans gr<strong>und</strong>sätzlich gleich; was<br />

sich ändert, ist <strong>die</strong> der Stellenwert <strong>die</strong>ser Interpretation auf seiner Werteskala. Anders gesagt:<br />

Das aus den Lehrjahre[n] herausgelesene Lebens- <strong>und</strong> Literaturverständnis hat Walser<br />

zunächst abgelehnt, später aber bejaht. 1974 wirft Walser Goethe eine „Ideologie der<br />

Entsprechung“ vor. <strong>Die</strong>se beruhe auf der Vorstellung der Welt als harmonisches Universum,<br />

in dem „etwas zu etwas paßt“. In <strong>die</strong>ser Ideologie sieht Walser den „Überbau“, den sich<br />

„Goethe <strong>und</strong> sein Wilhelm ungeduldig beim Adel“ holten, ohne sich um das Mißverhältnis<br />

zwischen <strong>die</strong>sem Überbau <strong>und</strong> seiner Basis zu kümmern. 3 <strong>Die</strong> sozioökonomische Basis der<br />

Goethezeit war nämlich nach Walser kein harmonisches Universum, in dem Gegensätzliches<br />

sich zu einer schönen Welt vereinte, <strong>die</strong> menschenwürdiges Leben ermöglichte. Goethes<br />

Überbau reagiert nach Walser auf eine historisch gegebene Basis, spiegelt sie aber nicht ab,<br />

sondern ´verzerrt´ sie <strong>und</strong> schafft dadurch ´falsches Bewußtsein´ von <strong>die</strong>ser Basis. <strong>Die</strong>ser<br />

Überbau ist <strong>die</strong> Kompensation bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse <strong>und</strong> dadurch selbst<br />

gesellschaftlich <strong>und</strong> geschichtlich bedingt. Aber <strong>die</strong>se Bedingtheit will Goethe nach Walser<br />

verschleiern, indem er versucht, seiner „Ideologie der Entsprechung“ überzeitliche Gültigkeit<br />

zu verschaffen. So liest Walser vor allem <strong>die</strong> Szene „im Saale der Vergangenheit“, <strong>die</strong> in der<br />

Forschung tatsächlich als Zentralstelle für <strong>die</strong> Herausarbeitung der „´synchronistische[n]<br />

Erfahrung des Klassischen´“ 4 angesehen wird. In dem „Saale der Vergangenheit“ ruft<br />

Wilhelm nämlich aus: „So war alles <strong>und</strong> so wird alles sein!“ 5 <strong>Die</strong>se Sentenz wurde nach<br />

Walser – weil „man schon herrscht“ <strong>und</strong> „[s]o soll es bleiben“ – zu einer „Stelle über den<br />

Köpfen“ gemacht, „<strong>die</strong> vorher von der Religion besorgt worden war“. 6 Es scheint auf der<br />

Hand zu liegen, daß <strong>die</strong>se <strong>Walsers</strong>che Argumentationsführung Gr<strong>und</strong>sätze marxistischer<br />

Ideologiekritik auf Goethes Wilhelm Meister anwendet. 7<br />

1982 hingegen erhebt Walser <strong>die</strong> „schön[en]“ <strong>und</strong> „schön geschildert[en]“ „Fabeln,<br />

Verläufe, Charaktere“ von Wilhelm Meister zu der überzeitlich gültigen „Schönmäßigkeit<br />

selbst“. Walser bew<strong>und</strong>ert jetzt <strong>die</strong> von Goethe „unter allen Umständen“ geschaffenen<br />

„Harmonien“. 8 Er macht deutlich, daß <strong>die</strong>se „Harmonien“ für Goethe <strong>die</strong>selbe Funktion<br />

ausüben, <strong>die</strong> alltägliche „[f]re<strong>und</strong>liche Einbildungen“ <strong>und</strong> „Illusionen“ 9 für jeden beliebigen<br />

1<br />

Gisela Brude-Firnau, „´<strong>Die</strong> Wahlverwandschaften´ als Referenzwerk in <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Erzählwerk“, in:<br />

Goethe-Jahrbuch 115 (1998), S. 183 – 198, hier 188.<br />

2<br />

So Walser 1986 bei einer Lesung. Zit. nach: Harald Breier, „Brando Malvolio, ein Mann von (fünf<strong>und</strong>)fünfzig<br />

Jahren: Form <strong>und</strong> Funktion des Zitats in <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Roman Brandung“, in: Literatur in Wissenschaft <strong>und</strong><br />

Unterricht 21 (1988), S. 191 – 201, hier 200.<br />

3<br />

<strong>Martin</strong> Walser, „Goethe hat ein Programm, Jean Paul eine Existenz. Über ´Wilhelm Meister´ <strong>und</strong> ´Hesperus´“,<br />

in: Werke XII, S. 239 – 255, hier 241, 248 <strong>und</strong> 250.<br />

4<br />

Hans-Jürgen Schings, „Kommentar“, in: Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines<br />

Schaffens. Münchner Ausgabe. Band 5, München/Wien: Carl Hanser, 1988, S. 711 – 856, hier 836.<br />

5<br />

Johann Wolfgang Goethe, „Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman“, in: ders.,. Münchner Ausgabe. Band 5,<br />

S. 7 – 610, hier 542. Vgl. Walser, „Goethe hat ein Programm, Jean Paul eine Existenz“, S. 241 <strong>und</strong> 249.<br />

6<br />

Walser, „Goethe hat ein Programm, Jean Paul eine Existenz“, S. 250ff.<br />

7<br />

Noch 1975 wurde Walser der ´marxistischen´ Literatur zugerechnet, vgl. Hans Wysling, „Thomas Mann –<br />

Irritation <strong>und</strong> Widerstand“, in: Schweizer Monatshefte für Politik, Wirtschaft, Kultur 55 (1975), S. 553 – 562,<br />

hier 559ff.<br />

8<br />

Walser, „Goethes Anziehungskraft“, S. 611ff.<br />

9<br />

Ders., „Das Endzeit-Spiel“, in: Werke XI, S. 739 – 742, hier 742.<br />

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