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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Mindful of Marcel, the protagonist of Proust´s great river of a novel, I had anticipated a flood of memories,<br />

as though my old neighborhoods would be so many madeleines. But if for him a madeleine dipped in a linden<br />

tea opened up the world of a long-forgotten past, there were no madeleines for me. 1<br />

Beide Abgrenzungen von Prousts Recherche, <strong>die</strong> <strong>Walsers</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gays, gehen<br />

offensichtlich auf <strong>die</strong> gleiche Fehllektüre <strong>die</strong>ses Romans zurück. Walser <strong>und</strong> Gay nehmen<br />

„<strong>die</strong> offizielle Poetik der Recherche mit ihrer Konzeption bewahrenden Vergessens,<br />

authentischen Erinnerns <strong>und</strong> mimetischer Verschriftlichung des Erinnerten“ 2 offensichtlich<br />

für bare Münze. Sie bemerken nicht, wie <strong>die</strong> Recherche <strong>die</strong>se offizielle Poetik durch <strong>die</strong><br />

impressionistische <strong>und</strong> imaginative mémoire errante laufend in Frage stellt. Sie nehmen den<br />

<strong>die</strong> „Recherche durchziehenden epistemologischen Riß zwischen einer Poetik des Wissens<br />

<strong>und</strong> einer Inszenierung des Nichtwissens“ 3 nicht zur Kenntnis.<br />

<strong>Walsers</strong> Interviews, <strong>die</strong> das Erscheinen des Romans Ein springender Brunnen begleitet<br />

haben, durchzieht allerdings ein anderer epistemologischer Riß. Es ist der Riß zwischen der<br />

Poetik des Nichtwissens <strong>und</strong> der Sicherheit, das Erlebte erinnern <strong>und</strong> das Erinnerte erzählen<br />

zu können. Den gleichen Riß werden wir in dem Roman selbst wiederfinden.<br />

[…] meine Gedanken dazu in drei halb essayistischen Passagen in dem Buch untergebracht, <strong>die</strong><br />

überschrieben sind mit ´Vergangenheit als Gegenwart´. Da heißt es dann eben, daß es <strong>die</strong> Vergangenheit als<br />

solche nicht gibt, daß ich weiß, ich schreibe von heute aus, daß ich <strong>die</strong> Gegenwart nicht wegdenken <strong>und</strong> nicht<br />

verhindern kann, daß sie beim Schreiben stets dabei ist. Trotzdem habe ich versucht, eine Schreibart zu<br />

entwickeln, in der <strong>die</strong> Vergangenheit mir entgegenkommt wie von selbst <strong>und</strong> keine Einmischung von heute<br />

duldet. 4<br />

Du behauptest, so kann es, so muß er gewesen sein. Aber du weißt, daß du es von jetzt aus schreibst. Das läßt<br />

sich nicht auflösen – rational. […] <strong>und</strong> dann habe ich gemerkt, jeden Morgen geh´ ich da auf <strong>die</strong>se leeren<br />

Seiten <strong>und</strong> jeden Abend komm´ ich da zurück <strong>und</strong> der Herbst zwei<strong>und</strong>dreißig bietet sich an, bietet sich an –<br />

ich weiß gar nicht woher <strong>und</strong> wie. 5<br />

Der angesprochene epistemologische Riß kommt in <strong>Walsers</strong> Äußerungen über <strong>die</strong> Hauptfigur<br />

seines Romans besonders anschaulich zum Ausdruck.<br />

Johann, sagt er [<strong>Martin</strong> Walser], ist ein Liebeskonstrukt. 6<br />

Ein Interviewer sagt über den Haupthelden:<br />

Er heißt Johann <strong>und</strong> nicht <strong>Martin</strong>.<br />

Wenn <strong>Martin</strong> Walser auf <strong>die</strong>sen Einwurf antwortet, betont er nicht mehr, daß Johann sein<br />

Konstrukt ist. Er bezeichnet ihn nunmehr als sein Alter Ego.<br />

Mein zweiter Name ist Johann. Ich will ihn ja nicht von mir distanzieren. 1<br />

1 Gay, o. c., S. 8.<br />

2 Vgl. Rainer Warning, „Vergessen, Verdrängen <strong>und</strong> Erinnern in Prousts A la recherche du temps perdu“, in:<br />

Anselm Haverkamp – Renate Lachmann (Hrsg.), Memoria – vergessen <strong>und</strong> erinnern, München: Fink, 1993, S.<br />

160 – 194, hier S. 192.<br />

3 Ibidem, S. 160.<br />

4 [Anonymus,] „´Jeder Tag bringt eine kleinere oder größere Provokation.´ <strong>Martin</strong> Walser, der am Sonntag den<br />

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt, über Naumann, Holocaust-Mahnmal <strong>und</strong> das neue<br />

Deutschland“, in: <strong>Die</strong> Welt online, 6. 10. 1998.<br />

5 So <strong>Martin</strong> Walser in der Sendung Literatur im Foyer. <strong>Martin</strong> Walser, Stuttgart: SWR, 1998.<br />

6 Birgit Lahann, „Der Deutschmeister“, in: Stern 42/1998, S. 66.<br />

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