21.01.2013 Aufrufe

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>und</strong> Sprache“ 1 auf. <strong>Die</strong>se Tendenz kehrt in <strong>Walsers</strong> Betrachtung des Dialekts als das<br />

„Natürliche“ sinngemäß wieder. <strong>Die</strong> Grimmsche sprachgeschichtliche Teleologie ist also in<br />

ihren Gr<strong>und</strong>zügen mit der <strong>Walsers</strong>chen identisch. Nun unterläuft Jacob Grimm seine<br />

Teleologie des Sprachverfalls, indem er in der volkstümlichen Gegenwart der alten<br />

Überlieferung den „verschütteten natürlichen Zusammenhang von Ding <strong>und</strong> Zeichen“ 2<br />

entdeckt. Der natürliche Zusammenhang von Ding <strong>und</strong> Zeichen bleibt nach Grimm erhalten,<br />

wenn auch nur in der Sprache, <strong>die</strong> in dem volkstümlichen Milieu gesprochen wird. Für<br />

Walser hingegen besteht in <strong>die</strong>ser Hinsicht keine Hoffnung mehr. Der Abfall des<br />

„Hochdeutschen“ (S. 410) von dem Volksgeist, der Wörter von den Dingen ist für ihn<br />

unumkehrbar. Der Dichter kann <strong>die</strong> Erinnerung an den para<strong>die</strong>sischen Zustand der Sprache<br />

zwar wachhalten, aber nicht den Sprachverfall aufhalten.<br />

4. 3. 2. „Der Eintritt der Mutter in <strong>die</strong> Partei“<br />

„Der Eintritt der Mutter in <strong>die</strong> Partei“ heißt der Titel des ersten Romanteils (S. 7) <strong>und</strong> dessen<br />

sechsten Kapitels (S. 89). Mit <strong>die</strong>sem Titel wird der ursprüngliche „Arbeitstitel“ des ganzen<br />

Romans – „Der Eintritt meiner Mutter in <strong>die</strong> Partei“ – der hetero<strong>die</strong>getischen Erzählsituation<br />

des Romans angepaßt. Das heißt, <strong>die</strong> Rede ist jetzt von „der Mutter“ <strong>und</strong> nicht von „meiner<br />

Mutter“, da der Erzähler außerhalb der <strong>die</strong>getischen Welt steht.<br />

Wir werden jetzt analysieren, wie der Roman über den Eintritt von Johanns Mutter in <strong>die</strong><br />

NSDAP <strong>und</strong> über ihr weiteres Schicksal bis zum Ende des Dritten Reichs erzählt. Mit dem<br />

Zusammenbruch des Dritten Reichs endet auch <strong>die</strong> erzählte Zeit des Romans.<br />

Es gibt einen guten Gr<strong>und</strong>, über das Schicksal von Johanns Mutter zu sprechen. Das Wort<br />

Schicksal bezeichnet ja ein Leben, das von höheren Mächten bestimmt wird, ohne daß man<br />

sich gegen <strong>die</strong>se Bestimmung auflehnen oder sie auch nur reflektieren kann. In dem vorigen<br />

Kapitel wurde unter Zuhilfenahme von Benjamins Rezension Oskar Maria Graf als Erzähler<br />

erörtert, daß in dem modernen Epos eine kollektive Identität konstruiert wird. <strong>Die</strong> Figuren,<br />

<strong>die</strong> in dem Epos auftreten, können ihre Identität kaum kritisch reflektieren. <strong>Die</strong>sen Effekt<br />

erreicht <strong>die</strong> epische Darstellung – wie dargelegt – vor allem durch <strong>die</strong> Wiedergabe des<br />

mündlichen Redensarten, <strong>die</strong> in der Gemeinschaft tra<strong>die</strong>rt werden. <strong>Die</strong> Gemeinschaft, von der<br />

hier <strong>die</strong> Rede ist, ist <strong>die</strong> Wasserburger Dorfgemeinschaft. Das Medium, in dem <strong>die</strong>se<br />

Gemeinschaft ihre mündliche Überlieferung bewahrt, ist der alemannische Dialekt. Johanns<br />

Mutter spricht <strong>die</strong>sen Dialekt.<br />

<strong>Die</strong> Mutter benutzte nie ein hochdeutsches Wort. Beim Vater gab es, obwohl er in Hengnau geboren worden<br />

war, also keine drei Kilometer von Mutters Geburtshaus in Kümmertsweiler, bei ihm gab es M<strong>und</strong>artwörter<br />

nur zum Spaß. (S. 18)<br />

Johanns Mutter gehört der Wasserburger Dorfgemeinschaft an. Wir haben im vorigen Kapitel<br />

gezeigt, daß <strong>die</strong> Mitglieder <strong>die</strong>ser Gemeinschaft keine individuelle <strong>und</strong> selbstreflexive<br />

Identität besitzen. Sie besitzen also auch nicht <strong>die</strong> Fähigkeit, selbstbestimmt <strong>und</strong><br />

eigenverantwortlich zu handeln. Als in dem Dorf Anfang der 30er Jahre<br />

nationalsozialistisches Gedankengut Platz greift, erzählt Johanns Mutter zu Hause nur nach,<br />

was sie über den Nationalsozialismus im Dorf gehört hat.<br />

1 Ibidem, S. 253.<br />

2 Ibidem, S. 253.<br />

181

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!