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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Lindau nach Wasserburg unterwegs. Wolfgang hat aber gerade eine Reifepanne gehabt <strong>und</strong><br />

bittet Johann, ihm bei der Reparatur des Reifens zu helfen. <strong>Die</strong>ser Bitte entspricht Johann mit<br />

einer glänzenden „Fahrradmechanikernummer“ (S. 397).<br />

Das Fahrrad, das Johann dem halbjüdischen Wolfgang repariert, ist das nämliche, das der<br />

Jungvolkführer Edi Fürst „über den Rain an der Turnhalle hinuntergeworfen hatte“ (S. 396),<br />

als er Wolfgang vor allen angetreten Pimpfen aus dem Jungvolk ausschloß (S. 133f). Johann<br />

empfindet seine Hilfe als einen Akt der Wiedergutmachung.<br />

Wolfgang hatte ihm leidgetan, als Edi Fürst ihm das Fahrrad den Rain hinuntergeworfen hatte. Er hatte<br />

Wolfgang dann vergessen <strong>und</strong> vergessen, daß er ihn vergessen gehabt hatte. Warum hat er nicht gesagt, daß<br />

er <strong>die</strong>ses Rad kennt? Er hätte doch zeigen können, daß er <strong>die</strong>ses Rad kennt. Dann hätte Wolfgang gewußt,<br />

was Johann damit sagen wollte! (S. 400)<br />

Es ist offensichtlich, daß <strong>die</strong>se Wiedergutmachung stattfinden soll, ohne daß der ganze<br />

Schuldzusammenhang angesprochen wird.<br />

Johann spürte, daß es ihm ganz <strong>und</strong> gar gegen den Strich gegangen wäre, wenn Johann jetzt von Edi Fürst<br />

angefangen hätte, von dem Appell damals. Er hätte doch überhaupt nicht gewußt, was er hätte sagen sollen.<br />

(S. 396)<br />

Wolfgang versucht anschließend, Johann über den Überlebenskampf seiner Familie im<br />

Dritten Reich zu erzählen <strong>und</strong> ihn generell über <strong>die</strong> Judenverfolgung in Wasserburg<br />

aufzuklären (S. 397ff). Von Wolfgang belehrt zu werden, ist Johann äußerst unangenehm,<br />

aber er traut sich nicht, ihm das zu sagen.<br />

Seine Mutter, Jüdin, lebte doch mit seinem Vater, dem Dr. Landsmann, in privilegierter Mischehe. […]<br />

Wolfgang, 1927 von Pfarrer Dillmann getauft. Ich doch auch, wollte Johann sagen. Ging nicht. (S. 397;<br />

kursiv im Original)<br />

Wolfgang merkte, daß er Johann Neuigkeiten erzählte. Dann weißt du auch nicht, sagte er, daß Rudolf Heß<br />

1934 Frau Haensel besucht hat? Nein, weiß Johann nicht. Er weiß nicht, daß Frau Haensel Jüdin ist.<br />

Wolfgang w<strong>und</strong>erte sich. <strong>Die</strong> hatte Protektion aus München, sagte Wolfgang. Johann wollte einwerfen, daß<br />

Frau Haensel eine treue Kohlenk<strong>und</strong>schaft sei. Es ging nicht. Er konnte überhaupt nichts sagen. (S. 398)<br />

Wolfgang Landsmann gelingt es, Johann zum Verstummen zu bringen. In <strong>die</strong>sem Punkt<br />

gleicht er Adolf, dem Johann auch „nicht widersprechen“ kann (S. 272). Wolfgang erinnert<br />

ebenfalls an den SS-Mann Gottfried Hübschle, den Johann sich zu fragen „geniert“, ob es<br />

denn zutrifft, daß „<strong>die</strong> SS im Osten keine Gefangenen mache“ (S. 345). Wenn ein ehemaliger<br />

SA-Mann in Johanns Marschkompanie das Gebell von H<strong>und</strong>en verschiedener Rassen<br />

nachmacht, bittet ihn Johann zwar, „das Schäferh<strong>und</strong>bellen auszulassen“ (S. 357). <strong>Die</strong>se Bitte<br />

wird nicht weiter kommentiert, man kann aber vermuten, daß sie geäußert wird, weil <strong>die</strong><br />

Schäferh<strong>und</strong>e zur Bewachung von Konzentrationslagern eingesetzt wurden. Aber als der SA-<br />

Mann über seine Teilnahme an der Judenverfolgung erzählt, kann Johann ihm wieder „nicht<br />

sagen“ (S. 357), was er darüber denkt. Johanns Gespräch mit Wolfgang verläuft also nach<br />

dem gleichen Muster wie früher seine Gespräche mit aktiven Nationalsozialisten. <strong>Die</strong><br />

Ähnlichkeit reicht dabei bis in <strong>die</strong> Formulierung der Sätze hinein, <strong>die</strong> Johann zu denken, aber<br />

nicht auszusprechen wagt. Da für Johann <strong>die</strong> „Sprache, <strong>die</strong> er nach 1933 erlernt hatte“, eine<br />

„Fremdsprache“ bleibt (S. 401), muß er im Gespräch mit den Anhängern der NS-Herrschaft<br />

stumm bleiben. Kaum ist <strong>die</strong>se Herrschaft beseitigt, muß er sich gegen den analogen Versuch<br />

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