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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Erfahrungsberichte aus. Dann inszeniert er aber mit rhetorischer Meisterschaft einen<br />

gleitenden Übergang von der berichteten Tatsachenfülle zu deren Reduktion auf eine Lesart.<br />

<strong>Die</strong> persönlich beglaubigten Erlebnisse aus Dresden werden auf einen Nenner gebracht: <strong>die</strong><br />

ostdeutschen „Landsleute“ pochen auf ihr „Selbstbestimmungsrecht“. 1<br />

In einem anderen Essay aus <strong>die</strong>ser Zeit wird aus der ostdeutschen ´sanften Revolution´<br />

lapidar gefolgert:<br />

Es gibt das Volk. Das ist jetzt bewiesen. 2<br />

Das Aufbegehren der Ostdeutschen gegen <strong>die</strong> SED-Diktatur entspringt nach Walser der<br />

gespürten „Notwendigkeit“ 3 , Deutschland wiederzuvereinigen. <strong>Die</strong> Intellektuellen sehen <strong>die</strong>se<br />

Notwendigkeit, „das Selbstverständliche“ 4 , nicht. Es liegt in <strong>die</strong>sem Kontext nahe,<br />

festzuhalten, daß auch viele DDR-Bürger <strong>die</strong>se Notwendigkeit zunächst nicht sahen.<br />

A Spiegel/ZDF opinion poll taken in the first week of December, 1989, produced startling results: 71% of the<br />

1,032 respondents from all over East Germany declared themselves in favor of sovereignty for the GDR,<br />

while only 27% came out in favor of German reunification. 5<br />

Hartmut Zwahr berichtet über jenen Umschlagspunkt in der ostdeutschen ´sanften<br />

Revolution´, durch den das Interesse der DDR-Bürger auf <strong>die</strong> deutsche Wiedervereinigung<br />

gelenkt wurde.<br />

[…] fand eine Massendiskussion statt. Ergebnis: Der Ruin des Landes ist vollständig, <strong>die</strong> Wirtschaft aus<br />

eigener Kraft nicht zu retten. […] Aus <strong>die</strong>ser Gr<strong>und</strong>stimmung <strong>und</strong> Einsicht erhoben Demonstranten, zuerst in<br />

Leipzig, im Übergang zu einer Art nationalen Revolution, der Wende in der Wende, den Massenruf<br />

Deutschland einig Vaterland! (seit dem 27. November). 6<br />

Zwahrs Schilderung wäre mit dem marxistischen Gr<strong>und</strong>satz vereinbar, daß das materielle<br />

Sein das Bewußtsein, auch das nationale Bewußtsein, bestimme. Für <strong>Martin</strong> Walser hingegen<br />

wird das nationale Bewußtsein einzig <strong>und</strong> allein von dem Sein der Nation bestimmt, einem<br />

Sein, das seinerseits voraussetzungslos ist. Wenn Walser den von Zwahr geschilderten<br />

Umschlagspunkt zulassen würde, müßte er auch <strong>die</strong> Dichotomie Volk/Intellektuelle<br />

entschärfen.<br />

1. 2. 3. <strong>Die</strong> Nationalgeschichte<br />

1. 2. 3. 1. <strong>Die</strong> nationalstaatliche Utopie<br />

Wir haben im Kapitel l.1.3. gesehen, daß der späte <strong>Martin</strong> Walser es der Veränderung der<br />

sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Verhältnisse nicht zutraut, <strong>die</strong> gr<strong>und</strong>sätzliche Negativität der<br />

menschlichen Existenz zu beheben. Das Mittel <strong>die</strong>ser Behebung sind <strong>die</strong> ästhetische<br />

Selbstimagination <strong>und</strong> ihre kunstvollste Variante, <strong>die</strong> Literatur. Wir haben ferner untersucht,<br />

1 Ders., „Kurz in Dresden“, S. 923.<br />

2 Ders., „Deutsche Sorgen I“, S. 933.<br />

3 Ders., „Vormittag eines Schriftstellers“, S. 959.<br />

4 Ders., „Deutsche Sorgen I“, S. 933.<br />

5 Brockmann, o. c., S. 54. Kursiv im Original.<br />

6 Hartmut Zwahr, „<strong>Die</strong> Revolution in der DDR“, in: Manfred Hettling (Hrsg.), Revolution in Deutschland? 1789<br />

– 1989. Sieben Beiträge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991, S. 122 – 143, hier 132f. Kursiv im<br />

Original.<br />

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