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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Andere Historiker betonten zusätzlich noch <strong>die</strong> Notwendigkeit, auch an das<br />

nationalsozialistische Forschungsobjekt mit hermeneutischer Empathie heranzugehen.<br />

Stellvertretend für <strong>die</strong>se Forderung wäre Andreas Hillgrubers Buch Zweierlei Untergang<br />

(1986) 1 zu nennen. <strong>Die</strong>ses Buch verband das Interesse an der konventionellen<br />

Militärgeschichte mit dem Bemühen um <strong>die</strong> Einfühlung in den einfachen deutschen Landser<br />

an der Ostfront. Hillgrubers Buch wurde kurz nach seinem Erscheinen in dem<br />

„Historikerstreit“, in dem <strong>die</strong> Kontroverse über <strong>die</strong> Unvergleichlichkeit der<br />

nationalsozialistischen Judenvernichtung me<strong>die</strong>nwirksam ausgetragen wurde, ausgiebig<br />

diskutiert. <strong>Martin</strong> Walser stand 1987, als er in einem Interview Überlegungen über <strong>die</strong> Schuld<br />

des einfachen „Soldat[en] aus Wasserburg“ anstellte, dem Hillgruberschen Verständnis der<br />

„Historisierung des Nationalsozialismus“ sehr nahe. (Wasserburg ist <strong>Walsers</strong> Heimatdorf.)<br />

Ich versuche zu verstehen, warum in meinem Bodensee-Dorf Wasserburg, wo ich aufgewachsen bin, junge<br />

Männer zur SS gekommen sind <strong>und</strong> warum mein Bruder <strong>und</strong> ich zufällig nicht zur SS gekommen sind. Wenn<br />

eine Bauernfamilie, sagen wir mal, arm genug war, dann konnte das nach ´33 dazu führen, daß der vierte<br />

Sohn <strong>die</strong>ser Familie, dem ein Hof in der Ukraine versprochen wurde, zur SS ging. […] <strong>und</strong> das war dann der<br />

einzige Gr<strong>und</strong>. […]<br />

FRANK/KÖHLER: Und ab wann sprechen sie von Schuld?<br />

WALSER: Ich finde, daß jetzt [1987] einige etwas sehr erhabene Position errungen haben, von der aus sie<br />

Schuldzuweisungen vornehmen. Es muß gerade in <strong>die</strong>ser Hinsicht eine Sprache gef<strong>und</strong>en werden, <strong>die</strong> alle<br />

aufnimmt <strong>und</strong> <strong>die</strong> alle teilen können. <strong>Die</strong> ist bisher nicht gef<strong>und</strong>en worden in den über 40 Jahren seit<br />

Kriegsende.<br />

FRANK/KÖHLER: Wie könnte <strong>die</strong>se gemeinsame Sprache aussehen?<br />

WALSER: Sicher nicht so, daß man zum Beispiel jene Soldaten, <strong>die</strong> an der Ostfront kämpften, beschuldigt,<br />

sie hätten dadurch den Betrieb von Auschwitz garantiert. Es war ein Krieg, der mag so ungerecht angefangen<br />

worden sein wie auch immer: Das hat aber nicht der Soldat aus Wasserburg zu verantworten. Den spreche ich<br />

vollkommen frei. 2<br />

Zehn Jahre später hat Walser seinen ´Freispruch´ des deutschen Landsers wiederholt.<br />

Denen hat man beigebracht, daß sie ihre Familien gegen Russen oder Sowjets oder Bolschewisten<br />

verteidigen. Nicht wahr, es gab auch fürchterliche Propaganda, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Leute erreicht hat. Und so haben sie<br />

von Auschwitz nichts gewußt. 3<br />

Andreas Hillgruber hat sich in seinem Buch Zweierlei Untergang, das über <strong>Die</strong> Zerschlagung<br />

des Deutschen Reiches <strong>und</strong> das Ende des europäischen Judentums handelt, für ein Objekt der<br />

Empathie entschieden, den deutschen Landser. Das geht bereits aus dem Untertitel deutlich<br />

hervor: das Deutsche Reich wurde ´zerschlagen´, <strong>die</strong> Existenz des europäischen Judentums<br />

´beendet´. <strong>Die</strong>se Empathieverteilung macht <strong>die</strong> Parallele Hillgruber – Walser perfekt. In<br />

seiner Laudatio auf Joachim Fests Buch Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli 4 machte<br />

Walser klar, daß <strong>die</strong> „schlimmsten Wirkungen“ des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1944 noch<br />

nicht eingetreten waren. Im Herbst <strong>die</strong>ses Jahres war alledings <strong>die</strong> Vernichtung von fast 6<br />

Millionen Juden, <strong>die</strong> durch deutsche Kriegshandlungen erst ermöglicht wurde, vollbracht.<br />

Daß Walser <strong>die</strong>s in seiner Aussage nicht berücksichtigt, zeigt, daß er den jüdischen Opfern<br />

1<br />

Andreas Hillgruber, Zweierlei Untergang. <strong>Die</strong> Zerschlagung des Deutschen Reiches <strong>und</strong> das Ende des<br />

europäischen Judentums, Berlin: Siedler, 1986.<br />

2<br />

Siblewski, Auskunft, S. 251. Kursiv im Original.<br />

3<br />

Hajo Steinert, „Gespräch mit <strong>Martin</strong> Walser zu dessen siebzigstem Geburtstag. Deutsche Sorgen – Deutsche<br />

Freuden“, Berlin: DeutschlandRadio, 1997. Zit. nach: www.dradio.de/cgi-bin/user/fm1004/es/neu-lit-g/270.html.<br />

4<br />

Berlin: Siedler, 1994.<br />

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