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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Ohne daß <strong>die</strong> Religion für ihn an Kraft eingebüßt hätte, war jetzt seine Fähigkeit zum <strong>Die</strong>nst ganz auf das<br />

Vaterland gelenkt. Und daß es dem dreckig ging <strong>und</strong> daß <strong>die</strong>se Versailles-Misere einen so zum Opfer<br />

Erzogenen nun zum Freikorps-Kämpfer werden ließ, ist doch verständlich. 1<br />

Zweitens macht Walser dem deutschen Bildungswesen zur Aufgabe, ein sinnvolles Narrativ<br />

der Nationalgeschichte breiten Bevölkerungsschichten zu vermitteln. Auch in <strong>die</strong>ser Hinsicht<br />

kommt Walser den neokonservativen Historikern, <strong>die</strong> sich an dem „Historikerstreit“<br />

beteiligten, nahe.<br />

Schlageter gehört nicht auf <strong>die</strong> Straße <strong>und</strong> nicht auf den Friedhof, sondern in <strong>die</strong> Schule. <strong>Die</strong><br />

Geschichtslehrer in Baden-Württemberg sollten endlich vorangehen <strong>und</strong> Schlageter zum Gegenstand der<br />

Auseinandersetzung machen. […] <strong>Die</strong> Akten des Terrorprozesses gegen Schlageter, das Terrorurteil, <strong>die</strong><br />

Terrorvollstreckung. […] Eine zur Auseinandersetzung zwingende Anthologie deutscher Geschichte. Daß<br />

jeder von uns sich am Ganzen beteiligt sähe. So ist es doch in Wirklichkeit. Wir sind nicht nur Partei. 2<br />

<strong>Die</strong> Darstellung der „Adenauer-Ulbricht-Feindseligkeit“ eignet sich hingegen kaum dazu, in<br />

der Bevölkerung ein solches Gemeinschaftsgefühl heranzubilden. Das erlaubt uns, <strong>Walsers</strong><br />

Bekenntnis zum Historismus als inhaltistisch zu bezeichnen. Das heißt: er wendet den<br />

Historismus auf <strong>die</strong> jüngste deutsche Geschichte nicht immer, wenn er sich mit ihr befaßt. Er<br />

wendet ihn nicht ergebnisoffen an. Der Historismus ist ihm vielmehr ein Mittel dazu, <strong>die</strong><br />

Vorstellung der nationalen Gemeinschaft zu konstruieren.<br />

1. 2. 4. <strong>Die</strong> Kulturnation <strong>und</strong> <strong>die</strong> Staatsnation<br />

<strong>Die</strong> Analyse des <strong>Walsers</strong>chen Geschichtsbildes hat ergeben, daß es zwei verschiedene<br />

Perspektiven kombiniert. Der Nationalsozialismus <strong>und</strong> <strong>die</strong> deutsche Teilung werden<br />

historisiert, <strong>die</strong> Existenz der Nation als solcher nicht. In <strong>die</strong>sem Kapitel soll gezeigt werden,<br />

wie Walser <strong>die</strong> deutsche Sprache <strong>und</strong> Literatur als Argumente für seine ´Ontologisierung´ der<br />

Nation benutzt.<br />

<strong>Martin</strong> Walser formuliert eine Vision der Welt, „[d]eren Universalität oder Globalität nur<br />

darin besteht, dass der Planet aus lauter lokalen Bemessenheiten besteht“ 3 . An einer anderen<br />

Stelle redet über <strong>die</strong> nationale „Synonymenspirale Sprache-Geschichte-Sinn“ 4 . Damit<br />

formuliert er das so genannte linguistische Relativitätsprinzip, das <strong>die</strong> Nationalsprachen als<br />

Stile (Karl Vossler), als autonome <strong>und</strong> miteinander schwierig vermittelbare Sinnwelten denkt.<br />

Prinzipiell sind zwei Wege vorstellbar, <strong>die</strong> zu dem linguistischen Relativitätsprinzip führen:<br />

der über den Sinn zur Sprache <strong>und</strong> der über <strong>die</strong> Sprache zum Sinn. Entweder ist der Sinn der<br />

Sprache vorgängig, oder er wird mit ihrer Hilfe erst konstruiert. Beide Wege wurden bereits<br />

in <strong>Walsers</strong> „Lieblingsjahrzehnt […] 1790 bis 1800“ 5 beschritten. <strong>Die</strong> frühe <strong>und</strong> mittlere<br />

Romantik stellte sich <strong>die</strong> Nation als Produkt einer semiotischen bzw. ästhetischen Praxis vor. 6<br />

<strong>Die</strong>se Vorstellung entsprach dem von ihr bewirkten linguistic turn, der <strong>die</strong> Sprache als<br />

1<br />

Walser, „Schlageter“, S. 672.<br />

2<br />

Ibidem, S. 679.<br />

3<br />

Ders., „Ich vertraue. Querfeldein. Über das Gift der Verachtung gegen das Nächste“, in: NZZ, 10. 10. 1998, S.<br />

65.<br />

4<br />

Ders., „Der unterirdische Himmel“, S. 652. Kursiv im Original.<br />

5<br />

Ders., „<strong>Die</strong> Banalität des Guten“, S. 23.<br />

6<br />

Vgl. Bernhard Giesen, „<strong>Die</strong> Intellektuellen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Nation“, in: Gerd Langguth (Hrsg.), Autor, Macht, Staat.<br />

Literatur <strong>und</strong> Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog, Düsseldorf: Droste, 1994, S. 13 – 33, hier 20.<br />

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