21.01.2013 Aufrufe

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Das A n a g r a m m […] besteht aus über den manifesten Text verteilten Elementen, <strong>die</strong>, zusammengesetzt,<br />

<strong>die</strong> aus der Zerstückelung zurückgeholte, kohärente Struktur eines fremden Textes erkennen lassen; der<br />

Referenztext ist als Anatext präsent. 1<br />

Auch <strong>die</strong> Mann´sche Typologie des Künstlers weist, neben anderen oben erwähnten<br />

Elementen, Alfred als „Künstlernatur“ aus. Aber dabei bleibt es. Alfred ist eine Künstlernatur,<br />

ein „künstlerisch empfindender Mensch“ (S. 52), aber kein Künstler. Er möchte einen Roman<br />

schreiben, in dem er seine eigene Vergangenheit im Kontext der sächsischen Geschichte<br />

darstellen würde. Dabei möchte er weit ausholen: er möchte bis zu dem sächsischen König<br />

August III. (1733 – 63) zurückgehen, der als seinen Ministerpräsidenten den Grafen Brühl<br />

hatte.<br />

Drei Projekte standen an: 1. Der Schneider des Grafen Brühl. 2. Der Erwerb des juristischen Doktorgrades. 3.<br />

<strong>Die</strong> Sammlung aller Dokumente, Fotos <strong>und</strong> Mitteilungen, in denen seine eigene Vergangenheit vorkam. <strong>Die</strong><br />

Punkte eins <strong>und</strong> drei ergänzten einander. Punkt zwei störte. (S. 195)<br />

In <strong>die</strong>ser Figuration sollte sich endlich sein Dasein ausdrücken. Ein Lebenswerk sollte das werden. Seiner<br />

Erfahrung würdig. (S. 216)<br />

Aber <strong>die</strong>ses Projekt kommt nie zustande, weil Alfred dem von Goethe <strong>und</strong> Schiller<br />

verspotteten Dilettanten bis ins Kleinste ähnlich ist.<br />

Wenn für alle historischen Romane so viele Bücher gelesen werden müßten, wie Alfred Dorn für seinen<br />

Brühl lesen wollte, könnte es nicht viele historische Romane geben. <strong>Die</strong> mit kleinster Bleistiftschrift<br />

bedeckten Lektürelisten, <strong>die</strong> Alfred Dorn hinterlassen hat […] Titel um Titel holte er aus den Karteien.<br />

Mode, Militär, Medizin – er wollte, bevor er begann, alles wissen. (S. 195f <strong>und</strong> 217)<br />

In ihrer gemeinsamen Streitschrift Über den Diletanttismus schreiben Johann Wolfgang<br />

Goethe <strong>und</strong> Friedrich Schiller:<br />

[…] man trifft viele Dilettanten mit großen Sammlungen ja man könnte behaupten alle großen Sammlungen<br />

sind vom Dilettantism entstanden. den[n] er artet meistens […] in <strong>die</strong> Sucht aus zusammenzuraffen er will<br />

nur besitzen nicht mit Verstand wählen <strong>und</strong> sich mit wenigem <strong>und</strong> Gutem zu begnügen 2<br />

Überhaupt will der Dilettant in seiner Selbstverkennung das Passive an <strong>die</strong> Stelle des Aktiven setzen, <strong>und</strong><br />

weil er auf eine lebhafte Weise Wirkungen erleidet, so glaubt er mit <strong>die</strong>sen erlittnen Wirkungen wirken zu<br />

können. 3<br />

Auch Alfred bleibt lebenslänglich ein Mensch, der „auf eine lebhafte Weise Wirkungen<br />

erleidet“, ohne sie durch ihre ästhetische Überformung erträglich machen zu können. Seine<br />

„Normallage“ (S. 73) ist immer <strong>die</strong> zwischen „zwei Unmöglichkeiten“ (S. 73 <strong>und</strong> 229). Der<br />

Mangel an Lebenssinn setzt bei ihm nicht <strong>die</strong> literarische Sinnproduktion frei, <strong>die</strong> zur<br />

Kompensation <strong>die</strong>ses Mangels notwendig wäre. Auch <strong>die</strong> christliche Religion hat für Alfred<br />

<strong>die</strong>se kompensatorische Kraft auch längt eingebüßt (S. 299, 350 <strong>und</strong> 475). Was im Folgenden<br />

1<br />

Renate Lachmann, Gedächtnis <strong>und</strong> Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp, 1990, S. 61. Gesperrt im Original.<br />

2<br />

Johann Wolfgang Goethe – Friedrich Schiller, [„Über den Dilettantismus. Allgemeines Schema“] , in: Johann<br />

Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Band 6.2. Weimarer<br />

Klassik 1798 – 1806 2, München/Wien: Carl Hanser, 1988, S. 151 – 173, hier 156.<br />

3<br />

<strong>Die</strong>selben, [„Über den Dilettantismus“], in: ibidem, S. 174 – 176, hier 174f.<br />

126

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!