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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Mädchen aus dem Zirkus, der gerade in Wasserburg Station macht. <strong>Die</strong>ses Artistenmädchen<br />

teilt mindestens drei wichtige Merkmale mit Mignon aus Goethes Wilhelm Meister: sie<br />

kommt aus dem ´fahrenden Volk´, ist braunhäutig (S. 141 <strong>und</strong> 218) <strong>und</strong> tritt in der Manege im<br />

„Flügelkleid“ (S. 157) auf. Wenn sie das letzte Lied ihres Lebens singt, hat Mignon ebenfalls<br />

Engelsflügel an. 1 Mignon ist nach dem Harfner bekanntlich <strong>die</strong> zweite wichtige Figur, <strong>die</strong><br />

sich in Wilhelm Meister den Sozialisationspraktiken der Turmgesellschaft widersetzt. Sie<br />

kann <strong>und</strong> will sich mit der bestehenden sozialen Ordnung nicht arrangieren. Indem Johann mit<br />

Mignon <strong>und</strong> dem Harfner in Verbindung gebracht wird, wird an ihm gerade <strong>die</strong>ser Zug<br />

betont.<br />

In der Manege führt Anita – so heißt das Artistenmädchen – einen Tanz namens<br />

„Bharatanatyam“ (S. 162) vor. Anschließend wird sie vom Büffel Vischnu auf <strong>die</strong> Hörner<br />

genommen (S. 163). <strong>Die</strong>se Aufführung reißt Johann ganz mit, auch deshalb, weil<br />

„Bharatanatyam“ ein „Wort aus seinem Wörterbaum“ (S. 163) ist. Das könnte er auch über<br />

Vischnu sagen. Vischnu ist nämlich der Name jenes Gottes, der in dem hinduistischen<br />

religionsphilosophischen Gedicht Bhagawadgita als Gott der Liebe angepriesen wird. Und<br />

gerade Bhagawadgita hängt bereits in Johanns Wörterbaum (S. 63), allerdings ohne daß <strong>die</strong><br />

Bedeutung <strong>die</strong>ses Wortes erklärt würde. Nach der Zirkusvorstellung läßt sich Anita von<br />

Johann ihre Oberschenkel mit Abziehbildern bekleben. Damit variiert Ein springender<br />

Brunnen ein Motiv aus dem Roman Das Einhorn, in dem Anselm Kristlein „Abziehbilder“<br />

auf <strong>die</strong> „walnußbraune Haut“ seiner Geliebten Orli klebt, weil ihn das an <strong>die</strong> erste Liebe<br />

seiner Kindheit erinnert. 2 Johanns Abziehbilder stellen einen „Wal, der Wasser in <strong>die</strong> Luft<br />

bläst“, <strong>und</strong> den „feuerspeiende[n] Popocatepetl“ (S. 203) dar. Man kann <strong>die</strong>se Abbildungen<br />

als Allegorien der Ejakulation lesen, zumal Johanns anschließende Masturbation tatsächlich<br />

zur Ejakulation führt (S. 205). 3<br />

All das passiert am Vorabend der Erstkommunion <strong>und</strong> bringt so Johann zu seinem<br />

christlichen Glauben, der <strong>die</strong> von ihm begangene „Unkeuschheit“ (S. 206) als schwere Sünde<br />

aburteilt, zum ersten Mal auf Distanz. Kurz davor wollte Johann noch „Pater werden“ (S.<br />

187). Jahre später kann er dann am frischen Grab seines in Ungarn gefallenen Bruders „nicht<br />

mehr“ (S. 369) beten. Johanns Abfall vom Glauben kommt, wenn man den Worten in seinem<br />

Wörterbaum Aufmerksamkeit schenkt, nicht überraschend. Ein Wort aus <strong>die</strong>sem Wörterbaum<br />

heißt Bileam. In dem Roman selbst erhält man über <strong>die</strong> Bedeutung <strong>die</strong>ses Wortes keine<br />

Auskunft. Man kann aber wissen, daß Bileam nach dem vierten Buch Mose „<strong>die</strong> Israeliten<br />

zum Abfall“ verführte <strong>und</strong> „daher dem späteren Judentum <strong>und</strong> dem N.[euen] T.[estament] als<br />

Prototyp aller Verführer <strong>und</strong> Irrlehrer“ galt. 4<br />

Während seiner Masturbation wird Johann klar, daß er für seinen Penis „keinen Namen“<br />

(S. 204) hat. Er gerät in ähnliche Sprachnot wie Alfred Dorn, <strong>die</strong> Hauptfigur des Romans <strong>Die</strong><br />

Verteidigung der Kindheit (siehe das Kapitel 3.1.).<br />

<strong>Die</strong> drei, vier oder fünf Jahre älteren, Edi, Heini <strong>und</strong> Willi <strong>und</strong> Fritz, […] <strong>die</strong> sagten Schwanz dazu, sagten<br />

Seckel dazu. Wörter wie Fausthiebe, fand Johann. Johann konnte <strong>die</strong>se Wörter nicht ohne eine Art Zittern<br />

1<br />

Ibidem, S. 516f.<br />

2<br />

Walser, „Das Einhorn“, S. 354.<br />

3<br />

Jost Nolte hält <strong>die</strong>se Szene für unglaubwürdig. Vgl. seine Rezension „Wörterbäume eines frühreifen Bengels“,<br />

in: <strong>Die</strong> Welt online, 29. 7. 1998: „Was soll seinerzeit einen Zehn- oder Elfjährigen wie <strong>die</strong>sen Johann instand<br />

gesetzt haben, sich seine Erregung […] eigenhändig vom Leibe zu arbeiten? Damals jedenfalls pflegte <strong>die</strong><br />

Pubertät erheblich später einzusetzen […]“<br />

4<br />

Vgl. Brockhaus. <strong>Die</strong> Enzyklopä<strong>die</strong> in 24 Bänden. Dritter Band. BED – BROM, Leipzig/Mannheim: F. A.<br />

Brockhaus, 1996, S. 337.<br />

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