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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Schon immer ´unpolitisch´ gewesen zu sein, das ist allerdings eine Selbststilisierung des<br />

späten <strong>Martin</strong> Walser, <strong>die</strong> seinen wechselvollen intellektuellen Lebenslauf den zuletzt<br />

vertretenen ästhetischen <strong>und</strong> politischen Positionen angleichen soll. Aber wenn Walser seine<br />

jugendliche Bew<strong>und</strong>erung für den späten Gottfried Benn, den er gerade noch persönlich<br />

treffen konnte, ins Gespräch bringt, 2 ist das nicht nur Selbststilisierung. In den späten 50er, in<br />

den 60er <strong>und</strong> in den frühen 70er Jahren war Walser zwar ein politisch engagierter<br />

Linksintellktueller. Aber in den frühen 50er Jahren war das noch nicht der Fall. Das hat seinen<br />

allgemeineren literatur- <strong>und</strong> geistesgeschichtlichen Hintergr<strong>und</strong>. <strong>Die</strong> Gruppe 47, der Walser<br />

1951 beitrat, war entgegen dem weitverbreiteten Bild in ihrer ersten Phase der<br />

gesellschaftskritischen Literatur nicht zugetan. 3 <strong>Martin</strong> Walser scheint insofern ein typisches<br />

Mitglied der Gruppe 47 gewesen zu sein, als seine Texte der frühen 50er Jahre eine<br />

unübersehbare „existentialistische Prägung“ 4 erhielten. <strong>Die</strong>se frühe existenzialistische<br />

Prägung scheint für das Konstrukt der negativen „Gr<strong>und</strong>verfassung“ der menschlichen<br />

Existenz mit verantwortlich zu sein.<br />

<strong>Die</strong> Vorstellung einer negativen „Gr<strong>und</strong>verfassung“ des menschlichen Daseins, <strong>die</strong><br />

unabhängig von der Gesellschaftsform gegeben ist, elaboriert Walser auch in seinem Essay<br />

Über Schüchternheit. Über den ´Schüchternen´ schreibt er:<br />

Mit einer ihm selbst nicht ganz geheuren Wonne badet er in dem Klischee, das den Schwächeren zum<br />

Sympathischeren macht. Vielleicht nicht an der Börse <strong>und</strong> nicht in der Industrie- <strong>und</strong> Handelskammer, aber<br />

abends im kulturbeflissenen Gesprächsmilieu, in dem man das Religionserbe ausquetscht. <strong>Die</strong> Trostformel,<br />

besagend, der Schwächere sei der bessere Mensch, widert ihn längst an. Er fühlt sich doch förmlich<br />

überflutet von Haß oder Bitterkeit, wenn er erlebt, daß er nicht sein Leben lebt, sondern das, was ihm<br />

aufgenötigt wird durch <strong>die</strong>, <strong>die</strong> sich durchsetzen gegen ihn. Allerdings, wenn ihm kulturkritisch angeboten<br />

wird, alle menschlichen Verhältnisse seien Machtverhältnisse […], wenn ein Diskurs gepflegt wird, in dem<br />

<strong>die</strong> Welt als eine einzige Hierarchiepyramide erscheint […], dann bringt er seine Durchsetzungsschwäche nur<br />

zu gerne unter in <strong>die</strong>sem entlastenden Bild. 5<br />

Derselbe Essay, aus dem jetzt zitiert wurde, enthält auch eine Anleitung dazu, <strong>die</strong> eigene<br />

mangelhafte Durchsetzungsschwäche zu einer Stärke zu machen.<br />

Tatsächlich bildet er sich gern ein, er sei eine Art Superchef. <strong>Die</strong> normalen Chefs sind ja immer nur Chef<br />

über einen bestimmten Bereich, er aber ist der Seelenchef. Er hat zwar nichts zu sagen, aber dadurch, daß alle<br />

ihn als Zuhörer brauchen, brauchen sie ihn nötiger als er sie. Also sind sie in Wirklichkeit von ihm abhängig,<br />

nicht er von ihnen. Das sind abendliche Einbildungen eines Schüchternen, wenn er wieder einen Tag lang<br />

überschüttet worden ist mit den Redeblüten aller Chefs. 6<br />

1<br />

Willi Winkler, „<strong>Die</strong> Sprache verwaltet das Nichts. Ein Gespräch mit <strong>Martin</strong> Walser über Poesie, Politik <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Frage, wieviel Macht der Literaturbetrieb wirklich hat“, in: SZ, 19. 9. 1998, S. 15.<br />

2<br />

Klaus Siblewski, „Verzicht auf Platzanweisung. Klaus Siblewski im Gespräch mit <strong>Martin</strong> Walser“, in:<br />

Allmende 46-47/15 (1995), S. 239 – 254, hier 245.<br />

3<br />

Vgl. Hans J. Hahn, „´Literarische Gesinnungsnazis´ oder spätbürgerliche Formalisten? <strong>Die</strong> Gruppe 47 als<br />

deutsches Problem“, in: Stuart Parkes – John J. White (Hrsg.), The Gruppe 47 Fifty Years. On a Re-Appraisal of<br />

its Literary and Political Significance, Amsterdam/Atlanta, GA: Editions Rodopi, 1999, S. 279 – 292, hier 281ff.<br />

4<br />

Andreas Meier, „´Kafka <strong>und</strong> kein Ende´? <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Weg zum ironischen Realisten“, in: Ulrich Ernst –<br />

<strong>Die</strong>trich Weber (Hrsg.), Philologische Grüße. Jürgen Born zum 65. Geburtstag, Wuppertal: Bergische<br />

Universität – Gesamthochschule Wuppertal, 1992, S. 54 – 95, hier 62.<br />

5<br />

Walser, Über Schüchternheit, S. 13f.<br />

6 Ibidem, S. 20f.<br />

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