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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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ausdifferenziert hat. Aus <strong>die</strong>ser Prämisse ergibt sich für ihn das Gebot, der „Versuchung“ zu<br />

trotzen, „den Namen, den man in einem Bereich erworben hat, auch in einem anderen zur<br />

Geltung zu bringen“. 1 <strong>Die</strong> Gr<strong>und</strong>sätze <strong>die</strong>ser Intellektuellenkritik kann man auch bei <strong>Martin</strong><br />

Walser nachlesen.<br />

Ich müßte heute von mir verlangen, jede ins Politische zielende Aussage als Handelnder auch praktizieren zu<br />

können. 2<br />

Aber im Politischen, Ökonomischen, Sozialen sollte man es verlangen dürfen: Mach einen besseren<br />

Vorschlag. Oder wenigstens: Mach überhaupt einen Vorschlag. 3<br />

Deshalb habe ich [1961] ein Büchlein herausgegeben: ´<strong>Die</strong> Alternative, oder brauchen wir eine neue<br />

Regierung?´, zugunsten der damaligen SPD. Nachträglich tut es mir leid, daß ich den Strauß – wie ich jetzt<br />

glaube – falsch erlebt habe. Für mich ist es ein Beispiel meiner Verführbarkeit oder Nichtzuständigkeit. 4<br />

Wenn man einen zeitgenössischen Autor sucht, dem <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Intellektuellenkritik<br />

am nächstem steht, wird man aber nicht mit Lyotard, sondern am ehesten mit Helmut<br />

Schelsky fündig. Schelsky knüpft auch an Max Weber an, steht aber anders als Lyotard in der<br />

Tradition der kulturkonservativen Intellektuellenkritik der Weimarer Republik. 1974 hat er in<br />

seiner Streitschrift <strong>Die</strong> Arbeit tun <strong>die</strong> anderen über <strong>die</strong> „neue[] Klasse der ´Heils- <strong>und</strong><br />

Sinnvermittler´“ 5 ein scharfes Urteil gefällt.<br />

<strong>Die</strong> Missionspraxis <strong>die</strong>ser Heilslehre wird, wie missionarisch üblich, <strong>die</strong>se Verteidigung der Wirklichkeit<br />

oder besser des Wirklichkeitssinnes als eine Lobpreisung des Status quo […] verdächtigen. […] Wenn man<br />

der Ziele des ´Heils´ im Glauben sicher ist, in <strong>die</strong>sem Falle der ´vollkommenen Gesellschaft der Zukunft´<br />

(Sozialismus) <strong>und</strong> des zu seinem ´wahren´ Wesen ´befreiten Individuums´ (Emanzipation), dann besteht <strong>die</strong><br />

Rückwendung des Denkens (´Reflexion´) eigentlich nur noch in der Beurteilung der sozialen Verhältnisse<br />

<strong>und</strong> des Verhaltens der Menschen unter dem Maßstab der Glaubensziele. 6<br />

Schelskys Urteil partizipiert an einem festen Topos der Intellektuellenkritik, auch <strong>und</strong> gerade<br />

derjenigen der 1980er <strong>und</strong> 1990er Jahre. 7 Dem Intellektuellen wird vorgeworfen, sich im<br />

Namen von nicht realisierbaren Gerechtigkeitsidealen, Moral- <strong>und</strong> Glaubenssätzen zum<br />

Richter über andere aufzuschwingen. Der Intellektuellenkritik übende „Gegenintellektuelle“<br />

Schelsky arbeitet freilich „mit den Mitteln des Intellektuellen, um zu zeigen, daß es ihn gar<br />

nicht geben dürfte“. 8 Seine Intellektuellenkritik wird me<strong>die</strong>nwirksam inszeniert, sie baut eine<br />

feste Topik weiter aus <strong>und</strong> verfestigt auf <strong>die</strong>se Weise einen bereits stabilen Sinnkomplex.<br />

<strong>Die</strong>ser Sinnkomplex beruht auf einer metaphora continuata, d. i. einer fortgesetzten<br />

1 Jean-Francois Lyotard, „Grabmal des Intellektuellen“, in: ders., Grabmal des Intellektuellen, aus dem<br />

Französischen von Clemens-Carl Härle, Graz/Wien: Hermann Böhlaus Nachf., 1985, S. 9 – 19, hier 15 <strong>und</strong> 18.<br />

2 Ders., „Über das Selbstgespräch“, S. 42.<br />

3 Ders., „Stimmung 94“, in: Werke XI, S. 1028 – 1038, hier 1030.<br />

4 „Erinnerung kann man nicht befehlen“, S. 66.<br />

5 Helmut Schelsky, <strong>Die</strong> Arbeit tun <strong>die</strong> anderen. Klassenkampf <strong>und</strong> Priesterherrschaft der Intellektuellen,<br />

Opladen: Westdeutscher Verlag, 1975, S. 15.<br />

6 Ibidem, S. 88 <strong>und</strong> 94.<br />

7 Zum Topos der religiösen Denkweise des Intellektuellen für <strong>die</strong>sen Zeitraum vgl. zusammenfassend Roman<br />

Luckscheiter, „Intellektuelle in der B<strong>und</strong>esrepublik 1968 – 1989“, in: Jutta Schlich (Hrsg.), Intellektuelle im 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert in Deutschland. Ein Forschungsreferat (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen<br />

Literatur. 11. Sonderheft), Tübingen: Niemeyer, 2000, S. 325 – 341, insbesondere 339.<br />

8 Jürgen Habermas, „Heinrich Heine <strong>und</strong> <strong>die</strong> Rolle des Intellektuellen in Deutschland“, in: ders., <strong>Die</strong> Moderne –<br />

ein unvollendetes Projekt, S. 130 – 158, hier 157.<br />

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