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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Das traumatische Gedächtnis ist also ein blockiertes Gedächtnis. <strong>Die</strong>se Blockade kann zu<br />

verzweifelten Versuchen führen, sich den Anlaß des Traumas wieder ins Gedächtnis zu rufen.<br />

Es wäre denkbar, Alfreds obsessives Notieren <strong>und</strong> „Bewahren“ (S. 366) als Symptome<br />

solcher Erinnerungsarbeit zu lesen. Und es wäre an <strong>und</strong> für sich erwartbar, daß auch Alfred<br />

eine traumatische Erinnerung an <strong>die</strong> Bombennacht hätte, in der das von ihm geliebte barocke<br />

Elbflorenz komplett zerstört wurde. Dann wäre auch sein obsessives Notieren <strong>und</strong><br />

„Bewahren“ erklärt. Eine Münchner Psychotherapeutin bringt <strong>die</strong> traumatische<br />

Langzeitwirkung der Erlebnisse aus dem Luftkrieg so auf den Punkt:<br />

Aus psychiatrischer Sicht sind <strong>die</strong> letzten Bomben [des Zweiten Weltkriegs] noch nicht verraucht. 1<br />

Alfred hat jedoch kein traumatisches Gedächtnis. Ihm steht <strong>die</strong> Erinnerung an <strong>die</strong><br />

Bombennacht bei vollem Bewußtsein zur Verfügung. Er kann sich an viele Einzelheiten aus<br />

den St<strong>und</strong>en des „Inferno[s]“ (S. 506) erinnern (S. 47, 116f <strong>und</strong> 374). Auch im Allgemeinen<br />

kann man sagen, daß er über ein ungemein gutes Gedächtnis verfügt (S. 172f). Oft erinnert<br />

sich Alfred an den Brand (S. 47 <strong>und</strong> 117) <strong>und</strong> den „Feuersturm“ (S. 325 <strong>und</strong> 504), vor denen<br />

er nach dem Luftangriff aus dem Stadtzentrum fliehen mußte. Seine Erinnerungen sind also<br />

wörtlich eingebrannt – der Roman wiederholt <strong>die</strong> berühmte Metapher des ´Einbrennens´, <strong>die</strong><br />

Nietzsche auf <strong>die</strong> traditionelle Mnemotechnik bezieht.<br />

„Wie macht man dem Menschen-Tiere ein Gedächtnis? […] Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis<br />

bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis […]“ 2<br />

Wolf Biermann benutzt <strong>die</strong> gleiche Metapher, wenn er über seine Erinnerungen an den<br />

vernichtenden Luftangriff auf Hamburg erzählt.<br />

<strong>Die</strong> Erinnerung an <strong>die</strong>ses Inferno ist mir eingebrannt wie nichts sonst. Alles vorher, alles nachher habe ich<br />

vergessen, aber über <strong>die</strong>sen Brand könnte ich Ihnen einen Roman schreiben, wenn ich Romane schreiben<br />

könnte. 3<br />

Der „Vergangenheitsverlust“ (S. 85), den der Luftangriff Alfred zufügt, führt zu keinem<br />

traumatischen Gedächtnis. Ein Trauma braucht eine „period of latency […] to be<br />

remembered, worked through and spoken out“ 4 . Alfred braucht <strong>die</strong>se „period of latency“<br />

nicht. Noch ist Alfreds Psyche durch <strong>die</strong> traumatische Unfähigkeit zu trauern gekennzeichnet.<br />

Alfred kann sich sehr wohl daran erinnern, was er in der Bombennacht verloren hat <strong>und</strong> was<br />

es zu betrauern gibt.<br />

Der 13. Februar 1945. Das war immer der Tag, in dem er landete. Oft verfiel er dann in ein Weinen, bei dem<br />

er sich selber vorkam wie ein kleines Kind. Warum hat er im Sommer 1945 nicht länger gesucht <strong>und</strong><br />

gegraben in den verkohlten Trümmern des Hauses? Vielleicht wären <strong>die</strong> Filme, <strong>die</strong> Alben noch zu retten<br />

gewesen. Es hätte doch nichts Wichtigeres gegeben als <strong>die</strong>ses Graben in den Trümmern des Hauses<br />

Borsbergstraße 28d. Und das hatte er versäumt. (S. 198)<br />

1<br />

Eine Münchner Psychotherapeutin in ihrem Leserbrief an <strong>die</strong> SZ, 7. 11. 2000, S. 14.<br />

2<br />

Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, S. 248. Kursiv im Original. Es handelt sich bei Nietzsche um ein Zitat,<br />

das in Anführungszeichen gesetzt ist. Deshalb werden <strong>die</strong> Anführungszeichen auch in unserem Blockzitat<br />

beibehalten.<br />

3<br />

Wolf Biermann, „Kleines Nachwort“, in: ders., Alle Gedichte, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, S. 159 –<br />

201, hier 180.<br />

4<br />

Bernhard Giesen, „National Identity as Trauma: The German Case“, in: Strath, o. c., S. 227 – 247, hier 229.<br />

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