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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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<strong>Die</strong> Verteidigung der Kindheit ist auch ein Roman darüber, wie Alfred seine „Produktion<br />

der Vergangenheit“ (S. 487) mißlingt, weil er nie über das Notieren <strong>und</strong> Sammeln<br />

hinauskommt. <strong>Die</strong>se Aufgabe übernimmt für ihn sein Erzähler. Alfred antizipiert das in einem<br />

Gespräch mit seinem Vater.<br />

Der Vater sagte, er sehe seit langem, daß Alfred fanatisch alles Frühere sammle, um einmal alles in ein Buch<br />

zu bringen. Und er wisse auch, daß er in der Selbstdarstellung Alfreds <strong>die</strong> mieseste Rolle spielen werde.<br />

Alfred war überrascht. <strong>Die</strong>se Einfühlung hätte er dem Vater nicht zugetraut. Der Vater dachte schon weiter,<br />

als Alfred bis jetzt gedacht hatte. Er konnte ihn beruhigen. Ihm sei das Bewahren selbst das wichtigste [sic].<br />

[…] Manchmal beherrsche ihn gegen jede Wahrscheinlichkeit das Gefühl, eines Tages werde alles, was er<br />

bewahre, veröffentlicht werden. Deshalb behandle er seine Vergangenheitszeugnisse, als handle es sich um<br />

fremde Heiligtümer. (S. 365f)<br />

Alfreds „Produktion der Vergangenheit“ ist also auch <strong>die</strong> des Erzählers, nur daß Alfred an<br />

seiner „Verteidigung der Kindheit“ (S. 511) zerbricht, während der Erzähler mit seiner<br />

Verteidigung der Kindheit einen ästhetischen Artefakt schafft.<br />

Mit derselben Wendung, nämlich als „Produktion der Vergangenheit“ (S. 324), wird auch<br />

Alfreds Arbeit im West-Berliner „Landesamt für Wiedergutmachung <strong>und</strong> verwaltete<br />

Vermögen“ (S. 317) charakterisiert. Es ist deshalb legitim, <strong>die</strong> Beschreibung von Alfreds<br />

Arbeit auch als poetologische Selbstbeschreibung zu lesen, als Auskunft des Erzählers über<br />

seine eigene „Produktion der Vergangenheit“. Das Darzustellende, das in keiner<br />

Geschichtserzählung je ´an sich´ erscheinen kann, ist in <strong>die</strong>sem Fall <strong>die</strong> Verfolgung der Juden<br />

im Dritten Reich. Alfred muß sich tagtäglich der Erfahrung beugen, daß erst eine<br />

„paragraphenfest[e]“ <strong>und</strong> „paragraphengerechte[] Aufbereitung der Vergangenheit“ (S. 385<br />

<strong>und</strong> 487) <strong>die</strong> jüdischen Entschädigungsanträge „bescheidreif“ (S. 387) machen kann. Das<br />

wird ausführlich gezeigt an dem Schicksal der Nelly Pergament (S. 322 – 327 <strong>und</strong> 385 – 387)<br />

aus Ostgalizien <strong>und</strong> des Leopold Direktor aus dem nordböhmischen Tetschen-Bodenbach (S.<br />

392f). <strong>Die</strong> Erzählung über <strong>die</strong> Lebensgeschichte der Frau Pergament wird zu einem ständig<br />

überschriebenen Palimpsest, einem auf Pergament aufgetragenen <strong>und</strong> dann wieder<br />

abgeschabten Text. Frau Pergaments Geschichte ändert sich je nachdem, welche schriftlichen<br />

Dokumente aus ihrem Leben vor 1945 gesichert werden <strong>und</strong> wie sie interpretiert werden.<br />

Wenn Alfred Frau Pergaments Lebensgeschichte rekonstruiert, konstruiert er eine fiktive<br />

Lebensgeschichte. <strong>Die</strong>se fiktive Lebensgeschichte hat aber höchst reale, nämlich finanzielle<br />

Folgen – Frau Pergament hat ja einen Entschädigungsantrag gestellt. Wenn man Vorgänge,<br />

<strong>die</strong> in fiktiven Erzählungen geschildert werden, als reale begreift, sind sie real in ihren<br />

Folgen. 1 Das erzählte Leben der Frau Pergament ist dann – in der Terminologie von<br />

Wolfgang Iser – nicht bloß fiktiv, sondern imaginär. 2 Der Akt des Fingierens, den Alfred<br />

vornimmt, „bezieht sich auf Wirklichkeit, ohne sich in deren Bezeichnung zu erschöpfen“. In<br />

Alfreds Erzählung über Frau Pergament bringt sich „ein Imaginäres zur Geltung“, das mit der<br />

in der Erzählung „wiederkehrenden Realität zusammengeschlossen wird“. Indem <strong>die</strong>ses<br />

Imaginäre „eine bestimmte Gestalt“ annimmt, tritt es „direkt in [<strong>die</strong>] Erfahrung“ von Alfred<br />

<strong>und</strong> weiteren Romanfiguren ein. Dadurch geschieht „ein Realwerden des Imaginären“ (Iser).<br />

<strong>Die</strong> erzählte Lebensgeschichte der Nelly Pergament nimmt Wirklichkeitscharakter an, weil sie<br />

Alfreds <strong>und</strong> Pergaments Lebenswirklichkeit beeinflußt.<br />

1 Ich beziehe mich hier auf <strong>die</strong> „in der Wissenschaftsgeschichte klassische Formulierung“ von W. I. Thomas von<br />

1928: „´If men define situations as real, they are real in their consequences.´“ Vgl. Aust, Literatur des<br />

Realismus, S. 41.<br />

2 Vgl. Wolfgang Iser, Das Fiktive <strong>und</strong> das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am<br />

Main: Suhrkamp, 1991. <strong>Die</strong> folgenden Zitate befinden sich auf den Seiten 20 – 22.<br />

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