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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Mittel, das <strong>die</strong>ser Negativität in spätmodernen Gesellschaften Abhilfe schaffen kann, ist <strong>die</strong><br />

poetische Selbstimagination. <strong>Die</strong>se Selbstimagination verfährt nicht mimetisch, sie spiegelt<br />

<strong>die</strong> Negativität nicht ab. Aber sie stellt <strong>die</strong>se Negativität auch nicht ästhetisch verfremdet dar.<br />

Sie hebt <strong>die</strong>se Negativität auf, im <strong>doppelte</strong>n Sinne des Wortes. Das heißt, <strong>die</strong> poetische<br />

Selbstimagination schafft in ihrem Vollzug <strong>die</strong> Negativität zeitweilig ab <strong>und</strong> trägt dabei<br />

trotzdem <strong>die</strong> „´Geburtsmarken´“ 1 ihres negativen Ursprungs. Entscheidend ist, daß jeder<br />

Mensch <strong>die</strong> Voraussetzungen mitbringt, in <strong>die</strong>sem Sinne „Künstler“ zu werden (siehe Kapitel<br />

1.1.1.).<br />

<strong>Die</strong> Anthropologie, <strong>die</strong> <strong>Walsers</strong> ästhetischer Lebensphilosophie zugr<strong>und</strong>eliegt, ist <strong>die</strong><br />

Anthropologie des „selbstkonstitutiven ´poiëtischen Subjektivismus´“. <strong>Die</strong>se Anthropologie<br />

löst den „sozialanthropologische[n] Konstitutionszusammenhang von ratio, oratio <strong>und</strong><br />

societas“, in dem <strong>die</strong> zweckgerichtete persuasive Rede erst sinnvoll ist, auf. 2 Stattdessen<br />

schreibt sie jedem Menschen <strong>die</strong> Fähigkeit zur umfassenden sprachlichen Selbstbestimmung<br />

zu. Zu Gipfelwerken der „´Anti-Rhetorik´ des ´poiëtischen Subjektivismus´“ 3 gehören<br />

zweifelsohne Schillers ästhetische Schriften. Dort ist <strong>die</strong> „´Anti-Rhetorik´ des ´poiëtischen<br />

Subjektivismus´“ eingeb<strong>und</strong>en in das Konzept der Schillerschen anthropologischen<br />

Wirkungsästhetik. Mit sprachlicher Selbsterfindung kann der Mensch nach Schiller jene<br />

Vereinseitigung seiner Anlagen kompensieren, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> funktionale Differenzierung der<br />

Gesellschaft verursacht ist. <strong>Die</strong>se Kompensation ist zunächst auf das Hier <strong>und</strong> Jetzt gerichtet;<br />

aber sie wird von Schiller zugleich als Beitrag zur ´Erziehung des Menschengeschlechts´<br />

verstanden. Sie soll langfristig dazu beitragen, daß der Mensch allmählich seine ganze<br />

„A n l a g e <strong>und</strong> B e s t i m m u n g“ 4 frei entfalten kann. In <strong>die</strong>sem Punkt unterscheidet sich<br />

Walser von dem Klassiker Schiller; seine „´Anti-Rhetorik´ des ´poiëtischen Subjektivismus´“<br />

ist auf kein langfristiges Ziel angelegt, sondern zielt ausschließlich auf das hic et nunc, auf<br />

den jeweiligen Augenblick. Und noch in einem Punkt unterscheidet sich Walser von der<br />

einflußreichen klassischen Tradition der „´Anti-Rhetorik´ des ´poiëtischen Subjektivismus´“.<br />

Er lehnt – wie oben gezeigt – <strong>die</strong> Vorstellung ab, daß <strong>die</strong> Moraldiskurse intersubjektiv gültig<br />

sein sollten. Dahingegen hat Schillers sprachliche Selbsterfindung auch <strong>die</strong> Versöhnung der<br />

Sinnlichkeit mit allgemein anerkannten Idealen der Sittlichkeit zum Ziel. Bei Walser fällt<br />

<strong>die</strong>ses Ziel fort, denn Walser erkennt in seinen Essays keine allgemein verbindliche<br />

Sittlichkeit an. (Trotz <strong>die</strong>ser zwei ´Abweichungen´ von Schiller steht zu erwarten, daß<br />

Schillers ästhetische Schriften sich für Walser als extrem attraktiv erweisen würden. Das<br />

zweite Kapitel <strong>die</strong>ser Arbeit bestätigt <strong>die</strong>se Vermutung.)<br />

<strong>Walsers</strong> zur Lebenspraxis gewordene Selbstimagination stellt eine Art dar, auf <strong>die</strong><br />

moderne Bedrohung der personalen Identität zu reagieren. <strong>Die</strong> gegenwärtige deutsche<br />

Alternative zu <strong>Walsers</strong> „´Anti-Rhetorik´ des ´poiëtischen Subjektivismus´“ präsentiert Jürgen<br />

Habermasens „unvollendetes Projekt“ der Moderne. 5 <strong>Die</strong>ses Projekt insistiert auf einer<br />

1 Walser bezieht sich hier wieder affirmativ auf Rudolf Borchardt. Vgl. „Eine Bekanntmachung“, S. 392.<br />

2 Lothar Bornscheuer, „Rhetorische Paradoxien im anthropologiegeschichtlichen Paradigmenwechsel“, in:<br />

Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 8 (1989). Rhetorik heute II, S. 13 – 42, hier 19 <strong>und</strong> 27.<br />

3 Ibidem, S. 28.<br />

4 Friedrich Schiller, „Ueber naive <strong>und</strong> sentimentalische Dichtung“, in: ders., Nationalausgabe. Zwanzigster<br />

Band. Philosophische Schriften. Erster Teil, Weimar: Hermann Böhlaus Nachf., 1962, S. 413 – 503, hier 416.<br />

Gesperrt im Original.<br />

5 Auf der persönlichen Ebene scheint das Verhältnis zwischen Walser <strong>und</strong> Habermas seit 1979 schwer belastet<br />

zu sein, wo der Frankfurter Philosoph <strong>Walsers</strong> Essay „Händedruck mit Gespenstern“ in einem Duz-Gespräch als<br />

„schrecklich“ bezeichnet haben soll. <strong>Die</strong> darauffolgenden Jahre haben <strong>die</strong> gegenseitige Antipathie noch vertieft.<br />

Vgl. Mechthild Borries, „Vom Widerspruch der Meinungen <strong>und</strong> Rezeptionen. <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Stellungnahme zu<br />

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