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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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1. 3. <strong>Die</strong> Zusammenfassung 1<br />

Das erste Kapitel <strong>die</strong>ser Arbeit versuchte der Frage nachzugehen, wie <strong>Martin</strong> Walser in seinen<br />

späten Essays, Reden <strong>und</strong> Interviews <strong>die</strong> personale Identität konstruiert. Wir sind zu dem<br />

Ergebnis gekommen, daß das Spätwerk <strong>Walsers</strong> zwei Identitätskonstruktionen unvermittelt<br />

nebeneinander setzt, <strong>die</strong> sich gegenseitig ausschließen.<br />

<strong>Martin</strong> Walser geht davon aus, daß <strong>die</strong> moderne Lebenswelt <strong>die</strong> Bildung der personalen<br />

Identität nicht gestattet. Der moderne Mensch ist ein fremdbestimmter Rollenplural, in ihm<br />

reproduziert sich <strong>die</strong> Pluralität der Sinnordnungen, <strong>die</strong> in der Lebenswelt miteinander<br />

konkurrieren. <strong>Die</strong>se Sinnordnungen bindet Walser konsequent an ihre sprachliche Gestalt –<br />

jede von ihnen muß erst sprachlich konstruiert werden. Keine <strong>die</strong>ser Sinnordnungen ist<br />

ontologisch ´gegeben´ <strong>und</strong> für den Einzelnen verbindlich. Durch <strong>die</strong> Zwänge, denen man in<br />

der Lebenswelt unterworfen ist, wird man freilich oft daran gehindert, sich zu seinen<br />

Sinnorientierungen zu bekennen. Deshalb kann man sich mit dem eigenen Dasein nicht<br />

identifizieren – man besitzt keine personale Identität.<br />

Dem Identitätsmangel kann das ästhetische „Sprachspiel“ Abhilfe schaffen. In der<br />

Nachfolge Nietzsches ist <strong>Walsers</strong> „Sprachspiel“ „not centrally a discource about art at all, but<br />

about what talking about art can do for the concept of the individual“ 2 . Während man in dem<br />

„Sprachspiel“ den „Schein diszipliniert“ (Walser), schafft man sich Sinnorientierungen, mit<br />

denen man sich im jeweiligen Augenblick identisch wissen kann. Solche individuelle<br />

Identitätsstiftung bewirkt eine momentane „Daseinssteigerung“.<br />

In <strong>die</strong>ser lebensphilosophischen Nutzung des Ästhetischen wird <strong>die</strong> Differenz zwischen<br />

der Produktion <strong>und</strong> der Rezeption zum Verschwinden gebracht. Wichtig ist nicht, ob man liest<br />

oder schreibt; wichtig ist der Effekt des Lese- oder Schreibprozesses, <strong>die</strong><br />

„Daseinssteigerung“. <strong>Walsers</strong> ästhetische Lebensphilosophie begreift <strong>die</strong> Kunst nicht als<br />

autonomen Diskurs, in dem <strong>die</strong> Negativität der Lebenspraxis ästhetisch überformt werden<br />

kann. <strong>Die</strong> Kunst, <strong>die</strong> Walser vorschwebt, soll <strong>die</strong>ser Negativität so weit wie möglich abhelfen.<br />

<strong>Die</strong> ´Disziplinierung des Scheins´ soll zu einem Teil der individuellen Lebenspraxis werden.<br />

Sie soll <strong>die</strong> Lebenspraxis ´ästhetisieren´.<br />

<strong>Die</strong>se ästhetische <strong>Konstruktion</strong> der personalen Identität hat mit den postmodernen<br />

Denkströmungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> europäische Geistesgeschichte seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre<br />

prägen, den Verzicht auf das „unvollendete[] Projekt“ (Jürgen Habermas) der Moderne<br />

gemeinsam. <strong>Die</strong> kommunikative Vermittlung der in der Moderne auseinandergetretenen<br />

Vernunftmomente des Schönen, Wahren <strong>und</strong> Guten ist nach Walser „gelaufen“ 3 . Was tritt an<br />

<strong>die</strong> Stelle <strong>die</strong>ses Vermittlungsprozesses? Über <strong>die</strong> Nutzung des ´schönen Scheins´ für <strong>die</strong><br />

eigene Lebenspraxis war schon <strong>die</strong> Rede. <strong>Die</strong> anderen zwei autonomen Vernunftmomente,<br />

das Wahre <strong>und</strong> das Gute, werden von Walser als solche nicht anerkannt. Jede<br />

Wissensformation ist nach Walser Produkt einer bestimmten Perspektive; <strong>die</strong> Wissens- <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> Moraldiskurse werden von ihm als Konstrukte begriffen, <strong>die</strong> der Durchsetzung<br />

partikulärer Herrschaftsansprüche <strong>die</strong>nen. Walser impliziert, daß <strong>die</strong> Aufhebung der<br />

Oppositionen wahr/fiktiv <strong>und</strong> gut/böse <strong>die</strong> Kategorie des Wahren <strong>und</strong> des Guten für <strong>die</strong><br />

Orientierung in der Lebenswelt belanglos macht. Wir haben gezeigt, wie <strong>die</strong>se<br />

1<br />

In den Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel werden <strong>die</strong> im Text bereits ausgewiesenen Zitate nicht mehr<br />

identifiziert. Das Gleiche gilt für <strong>die</strong> Schlußbetrachtung, <strong>die</strong> am Ende <strong>die</strong>ser Arbeit steht.<br />

2<br />

Michael Minden, The German Bildungsroman. Incest and Inheritance, Cambidge/New York/Melbourne:<br />

Cambridge University Press, 1997, S. 25.<br />

3<br />

Günter Grass – <strong>Martin</strong> Walser. Ein Gespräch über Deutschland.<br />

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