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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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„deutsches Erzähltabu“ 1 zu brechen. <strong>Die</strong> detailreichen Schilderungen des Luftangriffs lassen<br />

sich als Faktenberichte lesen; bei näherem Hinsehen erweisen sie sich aber als kunstvoll<br />

komponiert. Wir werden im Folgenden <strong>die</strong> semantische Struktur <strong>die</strong>ser Schilderungen<br />

untersuchen.<br />

In einer Rückblende berichtet der Erzähler, wie <strong>die</strong> Situation in Dresden kurz vor dem<br />

Kriegsende aussah. Wenn er auf den anglo-amerikanischen Luftangriff auf Dresden zu<br />

sprechen kommt, wechselt er ins historische Präsens.<br />

Mit einem Angriff hatte jetzt ohnehin niemand mehr gerechnet. Mitte Februar 1945! So lange war Dresden<br />

so gut wie verschont geblieben. Der Krieg war doch schon fast zu Ende. Dresden war überfüllt mit 500 000<br />

Frauen, Kindern, Soldaten, <strong>die</strong> aus dem Osten geflohen waren. Und da belegen sie <strong>die</strong> Stadt mit drei klugen,<br />

fabelhaft genau gezielten Großangriffen. Gezielt auf <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Kriegführung unwichtige Innenstadt, das Alt-<br />

Dresden-Juwel also. Man hat sich, wenn zwischen 100- <strong>und</strong> 200 000 Menschen getötet werden, nicht über<br />

zwei Dutzend Fotoalben <strong>und</strong> drei Filme zu beklagen. (S. 197)<br />

<strong>Die</strong> Zahl der vorwiegend schlesischen Flüchtlinge läßt sich freilich auf 200 000, <strong>die</strong> der Toten<br />

auf 35 000 beziffern. 2 Das war auch schon zu dem Zeitpunkt bekannt, als <strong>Martin</strong> Walser <strong>Die</strong><br />

Verteidigung der Kindheit schrieb.<br />

Der Flächenbrand, der von dem Luftangriff ausgelöst wurde, wird wiederholt als „Inferno“<br />

(S. 321, 424, 504 <strong>und</strong> 506) bezeichnet. <strong>Die</strong> verschiedenen Figuren des Romans benutzen<br />

damit das gleiche Wort, das bereits <strong>die</strong> Zeugen des Luftangriffs benutzt hatten. 3 Von einem<br />

ehemaligen Mitschüler Alfreds wird berichtet, daß ein Lehrer aus Alfreds Gymnasium<br />

in der Inferno-Nacht im Luftschutzkeller in Cotta nach der ersten Bombendetonation angefangen habe, <strong>die</strong><br />

Ilias vorzutragen, griechsch [sic] natürlich, <strong>und</strong> griechsch habe er rezitiert, bis nach der letzten Bombe des<br />

letzten Angriffs nur noch das Heulen des Feuersturms zu hören gewesen sei <strong>und</strong> Dresden erledigt war wie<br />

einst Ilion. (S. 504)<br />

Dreimal wird in dem Roman <strong>die</strong> Episode über den Löwen wiederholt, der in der<br />

Angriffsnacht aus dem brennenden Zirkus Sarrasani geflohen ist <strong>und</strong> sich später auf den<br />

Elbwiesen ungewohnt zahm verhalten hat (S. 27, 152 <strong>und</strong> 307).<br />

[…] Dr. Halbedel lag in den Elbwiesen, ringsum <strong>die</strong> Leichen der an der Verbrennung <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>ung<br />

Gestorbenen. Im Herbst 45 hat er geschildert, wie der Löwe näher kam, an den Toten schnupperte, Dr.<br />

Halbedel erreichte, spürte, daß da noch jemand lebte <strong>und</strong> sich sofort neben Dr. Halbedel niederlegte, sich<br />

sogar dicht an ihn schmiegte. (S. 27)<br />

Aus dem Zirkus Sarrasani <strong>und</strong> dem Dresdner ZOO sind während des Luftangriffs in der Tat<br />

Tiere entflohen. 4 Aber daß <strong>die</strong> allgemeine Zerstörung den König der Tiere dazu brachte, sich<br />

mit dem Menschen zu solidarisieren, scheint eine freie poetische Erfindung zu sein. Mit ihr<br />

werden <strong>die</strong> alttestamentarische Geschichte des Daniel in der Löwengrube <strong>und</strong> der griechische<br />

Orpheus-Mythos variiert.<br />

1<br />

Vgl. Volker Hage, „Feuer vom Himmel. Luftkrieg <strong>und</strong> Literatur oder: Ein deutsches Erzähltabu“, in: ders.,<br />

Propheten im eigenen Land. S. 314 – 323.<br />

2<br />

Gerhard Taddey (Hrsg.), Lexikon der deutschen Geschichte. Ereignisse, Institutionen, Personen. Von den<br />

Anfängen bis zur Kapitulation 1945, Stuttgart: Alfred Kröner, 1998, S. 295.<br />

3<br />

Vgl. Koll., Der zweite Weltkrieg – der totale Krieg. 1943 – 1945, Herrsching: Manfred Pawlak, 1989, S. 377,<br />

<strong>und</strong> Walter Kempowski, Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch Winter 1945. Band IV. 6. bis 14.<br />

Februar 1945, München: Albrecht Knaus, 1999, S. 764.<br />

4<br />

Vgl. Kempowski, o. c., S. 772, <strong>und</strong> Helmut Schnatz, Tiefflieger über Dresden? Legenden <strong>und</strong> Wirklichkeit. Mit<br />

einem Vorwort von Götz Bergander, Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2000, S. 7.<br />

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