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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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4. 2. Ein springender Brunnen als Künstlerroman<br />

4. 2. 1. <strong>Die</strong> Lehrjahre<br />

In seinem 1958 erschienenen Essay Leseerfahrungen mit Marcel Proust stellt <strong>Martin</strong> Walser<br />

Proust jenen Romanciers entgegen, <strong>die</strong> ihre Hauptfigur „zu einem kleinen Gott avancieren“ 1<br />

lassen. Wenn er gegen <strong>die</strong>se Romanciers polemisiert, hat er Prousts Werk als sein eigenes<br />

Vorbild vor Augen. Wir zitieren den wichtigsten Teil <strong>die</strong>ser Polemik:<br />

<strong>Die</strong> Wirklichkeit, unser Leben, darüber verfügten sie souverän <strong>und</strong> machten daraus Kunstwerke. Und doch<br />

wuchs mein Ungenügen an <strong>die</strong>sen Kunstwerken; <strong>die</strong> leicht begreifbare R<strong>und</strong>heit <strong>die</strong>ser Romanfiguren<br />

enthüllte ihr Baugeheimnis: sie waren Repräsentanten, sie waren das, was mit ihnen bewiesen werden sollte.<br />

Ich w<strong>und</strong>erte mich darüber, daß <strong>die</strong> Leser sich immer noch mit <strong>die</strong>sen Figuren identifizieren konnten <strong>und</strong><br />

dabei vergaßen, was bei <strong>die</strong>sen Figuren alles vergessen worden war, was aber doch jeder Leser in seinem<br />

eigenen Leben nicht übersehen konnte. […] Dann sollte man – dachte ich – nicht so tun, als könne man eine<br />

geschlossene Welt darstellen, dann sollte man <strong>die</strong> Unüberschaubarkeit des Wirklichen nicht durch Kunst<br />

überspielen, nicht durch Komposition überhöhen, sondern sollte <strong>die</strong> Unerkennbarkeit des Menschen <strong>und</strong> auch<br />

<strong>die</strong> nicht überschaubare Wirklichkeit in <strong>die</strong> Thematik der Romane einbeziehen.<br />

Und das hat Proust getan. Er hat gesehen, daß <strong>die</strong> Wirklichkeit nicht in zusammenfassender Verkürzung<br />

<strong>und</strong> in objektiv erzählten Lebensläufen darstellbar ist, ja daß sie eigentlich überhaupt nicht repräsentierbar<br />

ist. 2<br />

Nach dem jungen <strong>Martin</strong> Walser trägt <strong>die</strong> Romankunst Prousts der modernen<br />

„Entsubstantialisierung des Subjekts“ 3 Rechnung. <strong>Die</strong>se Romankunst macht den Menschen<br />

zu keinem „Repräsentanten“ eines ordo idearum, in dem seine wirkliche Subjektivität nicht<br />

aufgehen kann. <strong>Die</strong>se Subjektivität ist so komplex, ja so unerkennbar <strong>und</strong> unüberschaubar,<br />

daß sie sich der sprachlichen Darstellung entzieht. Das Gleiche gilt für den ganzen<br />

Lebenszusammenhang des Menschen. Individuum est ineffabile, ja der ganze ordo rerum est<br />

ineffabile. Jürgen Jacobs <strong>und</strong> Markus Krause ist nicht entgangen, daß <strong>Walsers</strong> Absage an<br />

„objektiv erzählte[] Lebensläufe[]“ auch eine Absage an das Genre bedeutet, in dem <strong>die</strong>se<br />

Lebensläufe erzählt werden: den Bildungsroman. 4<br />

Mit Ein springender Brunnen hat nun auch Walser einen Bildungsroman geschrieben. Er<br />

selbst nannte <strong>die</strong>ses Werk einen „Entwicklungsroman“, der darüber handelt, „wie <strong>und</strong> unter<br />

welchen Bedingungen Johann zu sich selber findet“. 5 Als Bildungsroman kann man Ein<br />

springender Brunnen insofern bezeichnen, als man bei der Definition <strong>die</strong>ses Begriffs auf „<strong>die</strong><br />

teleologischen Vorgaben der klassischen Bildungstheorien als wichtigste Interpretamente der<br />

Bildungsromane“ 6 verzichtet. Das Anliegen klassischer Bildungstheorien war bekanntlich <strong>die</strong><br />

Sozialisation des Individuums, <strong>die</strong> Entfaltung seiner schöpferischen Anlagen im<br />

„´Arrangement mit der lange als feindlich erfahrenen Umwelt´“ 7 . Und gerade <strong>die</strong>ses<br />

Arrangement kann <strong>und</strong> will Johann nicht erreichen. Johann strebt, mit Hegel zu reden, keinen<br />

Ausgleich zwischen „´der Poesie des Herzens <strong>und</strong> der entgegenstehenden Prosa der<br />

1<br />

Walser, „Leseerfahrungen mit Marcel Proust“, S. 152.<br />

2<br />

Ibidem, S. 152f.<br />

3<br />

Plumpe, „Das Reale <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kunst“, S. 259. Kursiv im Original.<br />

4<br />

Vgl. Jürgen Jacobs – Markus Krause, Der deutsche Bildungsroman. Gattungsgeschichte vom 18. bis zum 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, München: C. H. Beck, 1989, S. 231.<br />

5<br />

Dagmar Kaindl, Lebensreisen. Walser über seine Kindheit, Politik <strong>und</strong> Kritik, in: News 30/1998, S. 116 – 118,<br />

hier 116.<br />

6<br />

Klaus-<strong>Die</strong>ter Sorg, Gebrochene Teleologie. Stu<strong>die</strong>n zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann,<br />

Heidelberg: Carl Winter, 1983, S. 14.<br />

7<br />

So Rolf-Peter Janz, zit. nach: ibidem, S. 14.<br />

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