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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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emembering, unlike memory, is more than just a faculty to be trained for maximum accuracy. […] But we<br />

know that whereas the power of memory worsens with age, the power of remembering continues to give<br />

access to long-lost realms, to childhood, bringing them closer, often as moments of intense happiness. 1<br />

4. 1. 2. Exkurs: <strong>Walsers</strong> zwei Poetiken der Erinnerung<br />

<strong>Die</strong> in sich widersprüchliche Poetik der Erinnerung, <strong>die</strong> jetzt an Hand der Epitexte des<br />

Romans Ein springender Brunnen analysiert wurde, ist nur für <strong>Walsers</strong> Spätwerk<br />

charakteristisch. In <strong>Walsers</strong> Frühwerk kann man eine ganz andere Poetik der Erinnerung<br />

entdecken. Es ist eine genuin moderne Poetik der Erinnerung. Wir werden zunächst an Hand<br />

einiger früher Texte <strong>Walsers</strong> zeigen, worin <strong>die</strong> Modernität <strong>die</strong>ser Erinnerung besteht. In<br />

einem zweiten Schritt werden wir dann zeigen, wie Walser sich in seinem Spätwerk von<br />

<strong>die</strong>ser modernen Poetik der Erinnerung abwendet.<br />

In dem 1966 erschienenen Roman Das Einhorn ist von dem epistemologischen Riß<br />

zwischen der Proklamation des Nichtwissens <strong>und</strong> ihrer Zurücknahme noch nichts zu merken.<br />

Besonders in seinen fünf Anläss[en], über unser Erinnerungsvermögen verw<strong>und</strong>ert zu sein 2 ,<br />

schreibt <strong>die</strong>ser Roman gegen „jene Kunstkonzeptionen“ an, „<strong>die</strong> <strong>die</strong> Möglichkeit<br />

authentischer Erfahrung durch <strong>die</strong> Literatur postulieren <strong>und</strong> dadurch <strong>die</strong> Grenze zwischen<br />

Literatur <strong>und</strong> Realität zu negieren versuchen“. 3 <strong>Die</strong> Anläss[e] führen vor, wie dem Erinnerten<br />

„durch <strong>die</strong> Transformation in Sprache […] [seine] konkret sinnlichen Qualitäten“ 4 abhanden<br />

kommen. Um das Fazit abzuwandeln, das Ulf Eisele über einen der wichtigsten Romane der<br />

klassischen Moderne, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften 5 zieht: in Das Einhorn<br />

liegt <strong>die</strong> Wahrheit der erzählten Erinnerung in ihrem Scheitern.<br />

Das Einhorn führt <strong>die</strong> Unmöglichkeit vor, der erinnerten Wirklichkeit einen Namen zu<br />

geben <strong>und</strong> um den Sinn zu finden, der <strong>die</strong>ser Wirklichkeit innewohnt; beides erweist sich als<br />

unmöglich. Erzählen, Reflexion über das Erzählte <strong>und</strong> Reflexion über das Erzählen selbst<br />

gehen in <strong>die</strong>sem Roman ständig ineinander über. So wird <strong>die</strong> Referenzillusion der Leserin<br />

laufend durchbrochen. Das Einhorn hat einen auto<strong>die</strong>getischen Erzähler – einen Erzähler, der<br />

in der von ihm geschaffenen <strong>die</strong>getischen Welt <strong>die</strong> Hauptfigur ist. Der Erzählende ist also<br />

zugleich derjenige, von dem erzählt wird. Aber der Erzähler ist in dem Moment, in dem er<br />

über sich erzählt, nicht mehr derjenige, von dem er erzählt. Er ist mit der vergangenen Gestalt<br />

seiner selbst nicht identisch. <strong>Die</strong> Nichtidentität des Darzustellenden mit dem Darstellenden<br />

<strong>und</strong> mit dem sprachlichen Medium der Darstellung macht es unmöglich, vergangene<br />

Wirklichkeiten im Text adäquat zu repräsentieren <strong>und</strong> auf ihren Sinn oder ihr Wesen hin zu<br />

interpretieren. <strong>Die</strong>se Thesen werden im Folgenden mit einigen repräsentativen Zitaten aus<br />

dem Roman belegt.<br />

Kleinsprecherisch suche ich das Sägliche, das Übertreffliche, den Wörtersaum des Sachverhalts. 6<br />

1<br />

Günter Grass, „True Made-Up Stories. Remembering and Memory Are Not One and the Same“, in: FAZ<br />

English Edition, 5. 10. 2000, S. 7.<br />

2<br />

<strong>Martin</strong> Walser, „Das Einhorn. Roman“, in: Werke III, S. 5 – 440, hier 53 – 54, 61 – 62, 202 – 205, 236 – 239<br />

<strong>und</strong> 362 – 363.<br />

3<br />

Georg Eggenschwiler, Vom Schreiben schreiben. Selbstthematisierung in den frühen Romanen <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong>,<br />

Bern/Berlin/Bruxelles/Frankfurt am Main/New York/Oxford/Wien: Peter Lang, 2000, S. 154.<br />

4<br />

Ibidem, S. 153. Das folgende Resümee über Das Einhorn lehnt sich eng an Eggenschwilers Darstellung an.<br />

5<br />

Ulf Eisele, <strong>Die</strong> Struktur des modernen deutschen Romans, Tübingen: Max Niemeyer, 1984, S. 149: „Darin, in<br />

seinem Scheitern, liegt <strong>die</strong> Wahrheit des Textes.“<br />

6<br />

Walser, „Das Einhorn“, S. 62.<br />

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