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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Walser hat dem Werbeprospekt des Suhrkamp-Verlags <strong>und</strong> seinem Gespräch mit Rudolf<br />

Augstein, das kurz nach dem Erscheinen des Romans im Spiegel abgedruckt wurde, ein <strong>und</strong><br />

dasselbe Foto beigelegt. Nach einem Rezensenten unterstreicht <strong>die</strong>ses Foto,<br />

welches ihn – strahlend, barfüßig, mit Damenfahrrad – so zeigt, wie Johann in der Eröffnungsszene als<br />

liebenswerter kindlicher Narziß in den Roman eingeführt wird, […] <strong>die</strong> Botschaft: Ich, <strong>Martin</strong> Walser, bin es,<br />

von dem im ´Springenden Brunnen´ erzählt wird, <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Roman ist Ertrag meiner Erinnerung. 2<br />

Der Riß zwischen der Poetik des Nichtwissens <strong>und</strong> der Sicherheit, das Erlebte erinnern <strong>und</strong><br />

das Erinnerte erzählen zu können, wird durch <strong>Walsers</strong> Unterscheidung zwischen dem<br />

Gedächtnis <strong>und</strong> der Erinnerung weiter vertieft. Mit <strong>die</strong>ser Unterscheidung hält er auseinander,<br />

was normalsprachlich zwei „komplementäre Aspekte eines Zusammenhangs“ bezeichnet,<br />

nämlich „virtuelle Fähigkeit <strong>und</strong> organisches Substrat neben […] aktuellem Vorgang des<br />

Einprägens <strong>und</strong> Rückrufens spezifischer Inhalte“. 3<br />

Ich mache nämlich einen Unterschied zwischen Erinnerung <strong>und</strong> Gedächtnis. Ich arbeite nicht mit Gedächtnis.<br />

[…] Etwas ist in einen hineingefallen […] <strong>und</strong> man kann es dann später gerade so herausholen. […] Das ist<br />

Gedächtnis. […] [Und folgendes] ist Erinnerung. Ich weiß ganz sicher, daß ich das nicht gewußt habe. Man<br />

kann auch sagen, ich habe nicht gewußt, daß ich es gewußt habe. Und das ist der Unterschied. Über ein<br />

Gedächtnis kann man verfügen, über Erinnerungen nicht. Von einem Gedächtnis kannst du verlangen, was<br />

du willst. Von der Erinnerung kannst du nichts verlangen. […] Ich konnte plötzlich über Herbst 1932<br />

schreiben, obwohl ich nichts über den Herbst 1932 gewußt habe. 4<br />

Was Walser als Erinnerung bezeichnet, scheint sich der mémoire involontaire anzunähern, <strong>die</strong><br />

er bei Proust kritisiert. Der Begriff der Erinnerung steht somit gerade für <strong>die</strong> Fähigkeit<br />

authentischen Erinnerns <strong>und</strong> mimetischer Verschriftlichung des Erinnerten – eine Fähigkeit,<br />

<strong>die</strong> Walser Proust abstreitet. <strong>Walsers</strong> Erinnerung ist – im Unterschied zum Gedächtnis –<br />

unwillkürlich, unbestechlich <strong>und</strong> schöpft aus dem Unbewußten.<br />

Das Gedächtnis kann man ins Englische mit „memory“ übersetzen <strong>und</strong> den Vorgang der<br />

Erinnerung mit „remembering“. Wenn man sich <strong>die</strong>se Übersetzungsmöglichkeit präsent hält,<br />

wird klar, daß auch Günter Grass <strong>die</strong> Begriffe Gedächtnis <strong>und</strong> Erinnerung ähnlich definiert<br />

wie Walser. Auch Grass versteht unter der Erinnerung offenbar eine Fähigkeit des vegetativen<br />

Nervensystems, eine menschliche vis oder ingenita virtus. Mit dem Begriff Gedächtnis<br />

bezeichnet er <strong>die</strong> ars memorativa, <strong>die</strong> Kunst der Mnemotechnik, <strong>die</strong> nicht zur<br />

anthropologischen Gr<strong>und</strong>ausstattung des Menschen gehört. Das Gedächtnis ist für Grass eine<br />

künstliche mémoire volontaire, <strong>die</strong> Erinnerung rückt auch bei ihm in <strong>die</strong> Nähe der mémoire<br />

involontaire. 5<br />

As soon as the refreshing drink started fizzing in my memory, it began to breed stories, true made-up stories<br />

which had just been waiting for the code to unlock them. […] For all its apparent gaps and blurring,<br />

1<br />

Winkler, o. c.<br />

2<br />

Gerd Steffens, „<strong>Martin</strong> Walser oder <strong>die</strong> Unberührbarkeit des Glücks“, in: Blätter für deutsche <strong>und</strong><br />

internationale Politik 44 (1999), S. 486 – 494, hier 486.<br />

3<br />

Aleida Assmann, „Zur Metaphorik der Erinnerung“, in: <strong>die</strong>s. – <strong>Die</strong>trich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen<br />

<strong>und</strong> Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main: Fischer, 1991, S. 13 – 35, hier 14. Kursiv im<br />

Original.<br />

4<br />

„Erinnerung kann man nicht befehlen“, S. 60f; vgl. ähnlich [Anonymus,] „Gespräch mit <strong>Martin</strong> Walser. <strong>Die</strong>ser<br />

Pfiff steht da, Guido“, in: FAZ, 6. 6. 1998, S. 33.<br />

5<br />

Zur Unterscheidung zwischen dem Gedächtnis als ars <strong>und</strong> dem Gedächtnis als vis vgl. Assmann,<br />

Erinnerungsräume, S. 29.<br />

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