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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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oder Beben entgegennehmen. Unvorstellbar, daß er <strong>die</strong>se ungeschlachten Wörter je gebrauchen würde.<br />

Johann spürte, daß er sein Teil vor <strong>die</strong>sen Wörtern schützen mußte. (S. 204)<br />

Doch dann findet Johann für sein „Teil“ einen eigenen Namen.<br />

Immer nur: Du, Du bist, der Du bist. Er spürte, wie sein Teil ihm auf seine Silben antwortete: Ich bin der ich<br />

bin. Und er: Du bist der Du bist. Und wieder: Ich bin der ich bin. Du bist der Du bist. Ich bin der ich bin. (S.<br />

205)<br />

Aus den ersten Buchstaben der Worte des Satzes „Ich bin der ich bin“ macht Johann am<br />

folgenden Morgen, dem Morgen vor der Erstkommunion, schließlich das Akronym IBDIB.<br />

Sollte er es vorläufig Schwanz nennen? Name: Vorläufig Schwanz. Dann war jedes Darandenken schon eine<br />

Todsünde, <strong>die</strong> heiligmachende Gnade verscheucht für immer, das heißt, er lebte auf <strong>die</strong> Hölle zu. Du bist der<br />

Du bist. Ich bin der ich bin. Du bist der Du bist. Ich bin der ich bin. IBDIB. […] Er spürte, daß sein Teil<br />

IBDIB annehmen würde. Je öfter er IBDIB sagte, desto näher kamen IBDIB <strong>und</strong> sein Teil einander. Am<br />

besten wäre eine Taufe. Aber nicht heute, bitte. (S. 208)<br />

Das Akronym, mit dem Johann seinen Penis bezeichnet, ist aus den Anfangsbuchstaben jener<br />

Worte gebildet, mit denen Jahwe im 2. Buch Mose 3, 14 seine göttliche Unerforschlichkeit<br />

zum Ausdruck bringt. <strong>Die</strong>se Worte lauteten ursprünglich<br />

Ich werde sein, der ich sein werde. Bereits in vorchristlicher Zeit […] wurde <strong>die</strong>se Aussage übertragen mit<br />

der Formulierung ´Ich bin, der ich bin´. <strong>Die</strong>se Übersetzung setzte sich in vielen Sprachen durch, von dem<br />

lateinischen Text bis hin zur neuen Zürcher Übersetzung. 1<br />

Mit dem Akronym IBDIB, das er mit niemandem zu teilen braucht, macht Johann den ersten<br />

Schritt zur Schaffung einer individuellen Identität. Um <strong>die</strong>sen Schritt tun zu können, muß er<br />

sich von den Identitätsinhalten befreien, <strong>die</strong> ihm der Katholizismus aufzwingt. Er muß<br />

aufhören, <strong>die</strong> Masturbation für eine „Sünde“, gar „Todsünde“ (S. 205) zu halten. Daß Johann<br />

einen eigenen Namen für seinen Penis findet, wird durch <strong>die</strong> Komposition des Romans als<br />

Akt der Befreiung von der katholischen Bevorm<strong>und</strong>ung kenntlich gemacht. Johanns Vater<br />

erklärt in der Rede, <strong>die</strong> er bei der Gründung der theosophischen Vereinigung in Wasserburg<br />

hält:<br />

Unser Wesen in Leib <strong>und</strong> Seele zu spalten, das war ein religiöses Vergehen, seitdem irren wir. Wir Europäer.<br />

(S. 110)<br />

Fünf Jahre später evoziert Johann <strong>die</strong>sen Satz, während er vor der Erstkommunion<br />

masturbiert:<br />

Wahrscheinlich gab es kein Wort für <strong>die</strong>ses Teil, weil das Teil weder berührt noch bedacht werden sollte.<br />

Gar nicht existieren sollte <strong>die</strong>ses Teil. Und existierte doch so … so sehr. Und er hatte jetzt <strong>die</strong> ihn ganz <strong>und</strong><br />

gar durchdringende Empfindung, daß er überhaupt nur durch <strong>die</strong>ses Teil da war. (S. 204)<br />

Am Vorabend seiner Erstkommunion bezeichnet Johann also seinen Penis mit dem Namen<br />

Gottes. Am Morgen vor der Erstkommunion wiederholt er <strong>die</strong>se Bezeichnung <strong>und</strong> macht aus<br />

1 Vgl. Das zweite Buch Mose. 1. Teil. Kapitel 1 bis 18. Erklärt von Hansjörg Bräumer, Wuppertal: R.<br />

Brockhaus, 1996, S. 86. <strong>Martin</strong> Walser will sich hier „direkt auf <strong>die</strong> Bibel bezogen“ haben: „ich wollte schon <strong>die</strong><br />

höchste Zitierinstanz bemühen“. Weiss, o. c., S. 178.<br />

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