21.01.2013 Aufrufe

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

als deutsches Gesellenstück vielleicht bew<strong>und</strong>ern, hier nach <strong>die</strong>ser, drüben nach der anderen Art, Wolf wollte<br />

das Ganze, <strong>und</strong> sei´s als verlorenes. (S. 149)<br />

Mit dem berühmten Vers „Von der Maas bis an <strong>die</strong> Memel“ aus der ersten Strophe des<br />

„Deutschlandliedes“ assoziiert Wolf <strong>die</strong> deutsche musikalische Tradition. Einer<br />

kompromittierten politischen Tradition stellt er eine große kulturelle Tradition entgegen.<br />

Wenn Wolf <strong>die</strong> Westdeutschen darüber diskutieren hörte, welche Strophen des Deutschlandliedes im<br />

Augenblick brauchbar seien, dachte er an seinen Urgroßvater, der in Memel Orgel spielte, einen Chor<br />

gründete … (S. 118)<br />

Wolfs Bekenntnis zur „ganze[n] Geschichte“ ist auch eines zur ganzen Nation. Wolf stellt<br />

sich ja gegen <strong>die</strong> eine spezifisch b<strong>und</strong>esrepublikanische Geschichtstradition, <strong>die</strong> den<br />

Nationalsozialismus als ihren Ursprung <strong>und</strong> den ideologischen Feind im Osten als ihr<br />

Negativ begreift. Das westdeutsche kollektive Gedächtnis ist – glaubt Wolf – für <strong>die</strong> deutsche<br />

Nation buchstäblich tödlich. Wenn <strong>die</strong> Nation solches Gedächtnis pflegt, wird sie „leblos“.<br />

Zu dem gegenwärtigen b<strong>und</strong>esdeutschen Geschichtsbewußtsein will Wolf eine Alternative<br />

präsentieren. <strong>Die</strong>se Absicht teilt er mit seinem Erzähler, der auch <strong>die</strong> Aussagen anderer<br />

Figuren so arrangiert, daß Wolfs Sicht der deutschen Geschichte bestätigt wird. Es ist <strong>die</strong>se<br />

Präsentation einer klar umrissenen Alternative zum b<strong>und</strong>esdeutschen Status Quo, <strong>die</strong> Dorle<br />

<strong>und</strong> Wolf von anderen Erzählwerken <strong>Walsers</strong> unterscheidet. <strong>Die</strong> Erzählwerke, <strong>die</strong> Walser vor<br />

Dorle <strong>und</strong> Wolf veröffentlichte, präsentieren nämlich keine Alternative zu der dargestellten<br />

gesellschaftlichen Lage. Damit entsprechen sie dem Konzept der Ironie, das Walser in seiner<br />

Frankfurter Vorlesung Selbstbewußtsein <strong>und</strong> Ironie (1980) formulierte. Walser sagte dort über<br />

<strong>die</strong> literarische Ironie:<br />

Sie läßt eben, wie Hegel das formuliert hat, sie läßt gelten, was gilt, als gelte es. Aber eben dadurch, daß sie<br />

so verzweifelt versucht, <strong>die</strong>ses Bestehende gutzuheißen, weist sie auf den Mangel im Bestehenden hin. Und<br />

das Vertrauenswürdige an <strong>die</strong>sem literarischen Vorgehen ist, <strong>die</strong>se Ironie tut das höchst unfreiwillig. […]<br />

Wenn also jemand unter bestimmten Verhältnissen zusammenbricht, so wie Jakob [von Gunten] des öfteren,<br />

<strong>und</strong> er singt, während er zusammenbricht, das Loblied der Verhältnisse, <strong>die</strong> ihn zusammenbrechen lassen,<br />

dann gibt das eben den ironischen Klang. 1<br />

Zwar hat <strong>Martin</strong> Walser <strong>die</strong>se poetologische Willenserklärung in keinem erzählerischen Werk<br />

vollkommen ´umgesetzt´. 2 Keines seiner Prosawerke erschöpft sich darin, „gelten [zu lassen],<br />

was gilt, als gelte es“. Der späte Walser beschränkt sich nicht ganz auf den Part, das<br />

„Bestehende gutzuheißen“ <strong>und</strong> es der Leserin zu überlassen, <strong>die</strong> Nichtswürdigkeit <strong>die</strong>ses<br />

Bestehenden zu realisieren. Vielmehr unterbreitet er seiner Hauptfigur einen<br />

´Emanzipationsvorschlag´. Aber <strong>die</strong>ser Vorschlag ist in seinen gesellschaftspolitischen<br />

Konsequenzen immer sehr „behutsam“ 3 . Letztlich verdankt <strong>Walsers</strong> Hauptfigur, wir haben es<br />

in dem Kapitel 1.1.1. gesehen, ihre „Selbstvergewisserung“ der Ästhetisierung ihrer<br />

individuellen Lebenspraxis <strong>und</strong> nicht politisch relevanten Handlungsentwürfen. Noch spannt<br />

<strong>Walsers</strong> spätes Erzählwerk einen Horizont auf, in dem solche politischen Handlungen<br />

vorstellbar wären. Beides ist in Dorle <strong>und</strong> Wolf der Fall. Wolf handelt politisch gegen <strong>die</strong><br />

1 Walser, „Selbstbewußtsein <strong>und</strong> Ironie“, S. 598f.<br />

2 Vgl. Joanna Jabłkowska, „Deutsches Selbstbewußtsein <strong>und</strong> Ironie. Zu <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> ´<strong>Die</strong> Verteidigung der<br />

Kindheit´“, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 1994, S. 75 – 87, hier insbesondere 79 – 80.<br />

3 Ibidem, S. 206.<br />

107

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!