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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Eigentlich hätte er mit Politik lieber gar nichts mehr zu tun gehabt. (S. 104)<br />

Auch wirkt es höchst unwahrscheinlich, wenn Alfred in Gedanken das gleiche Wort<br />

„Marxisten-Staat“ benutzt wie sein Vater, mit dem er zeitlebens auf gespanntem Fuße steht.<br />

Einmal schreibt ihm sein Vater:<br />

Treffen müsse man sich in Zukunft ohnehin in Marienbad oder Prag. Hier seien alle müde geworden, jeder<br />

Auftrieb fehle, keine Aussicht auf Besserung, <strong>die</strong> Versorgung so schlecht wie noch nie. <strong>Die</strong>sem Marxisten-<br />

Staat sei es völlig gleichgültig, wie viele Menschen an ihm zugr<strong>und</strong>egingen. (S. 364f)<br />

Wenn Alfred plötzlich in Schlagworten des Kalten Krieges denkt, wird <strong>die</strong> Vorstellung<br />

negiert, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Leserin sich über ihn im bisherigen Verlauf der Lektüre bilden konnte. Wenn<br />

der Erwartungshorizont, den <strong>die</strong> Leserin sich im Laufe der Lektüre gebildet hat, negiert wird,<br />

spricht Wolfgang Iser über <strong>die</strong> sek<strong>und</strong>äre Negation. Er unterscheidet sie von der primären<br />

Negation, <strong>die</strong> zustandekommt, wenn Elemente der <strong>die</strong>getischen Welt den lebensweltlichen<br />

Erwartungshorizont der Leserin negieren. 1 Wir haben oben <strong>die</strong> Verfahren analysiert, <strong>die</strong> dazu<br />

geeignet sind, bei dem Leser <strong>die</strong> Referenzillusion hervorzurufen. Bei der sek<strong>und</strong>ären<br />

Negation wird <strong>die</strong> Referenzillusion durchbrochen. Der Erzähler entfernt sich von seinem<br />

Detailrealismus, der einer „wirklich gewesene[n] Person“ das Recht „auf ihr Wesen <strong>und</strong> ihre<br />

Erscheinung“ (S. 219f) verschaffen möchte. Alfred hört auf, eine glaubwürdige Gestalt zu<br />

sein, <strong>und</strong> wird zur bloßen Funktion der semantischen Intention des Erzählers.<br />

Stuart Taberner hat bemerkt, daß „Walser´s predilection for inserting aspects of his own<br />

history and opinion into his narratives […] [makes it] difficult to maintain the standard<br />

literary-theoretical distinction between an author´s biography, public persona, and selfpresentation<br />

in fiction“ 2 . <strong>Die</strong>se Einschätzung scheint auf <strong>die</strong> Darstellung der deutschen<br />

Teilung in der Verteidigung in besonderem Maße zuzutreffen. Der Romanerzähler schildert<br />

den Kalten Krieg <strong>und</strong> <strong>die</strong> deutsche Teilung ähnlich wie der Essayist Walser. Er schildert den<br />

den Kalten Krieg als Konflikt solcher weltanschaulichen Lager, <strong>die</strong> man formallogisch als<br />

negative Entsprechungen bezeichnen könnte. Das heißt, <strong>die</strong> weltanschaulichen Lager sind<br />

inhaltlich konträre, aber strukturell analog beschaffene Gebilde. Der einzige Punkt, in dem<br />

<strong>die</strong>se negativen Entsprechungen inhaltlich übereinstimmen, ist das Ziel, <strong>die</strong> deutsche Teilung<br />

aufrechtzuerhalten (siehe das Kapitel 1.2.3.1.).<br />

Russen <strong>und</strong> Amerikaner saßen, mit Unverständnis gepanzert, schon wieder wochenlang an einem Tisch <strong>und</strong><br />

erzeugten das Weltklima des Kalten Krieges, in dem nur Angst ge<strong>die</strong>h. (S. 104)<br />

Aber <strong>die</strong> in Genf aneinander vorbeiredenden Giganten waren gerade dabei, den eisernen Vorhang auch noch<br />

zu vereisen. […] Das hieß, West-Berlin war in beiden Richtungen blockiert. So sah es aus, wenn Deutsche<br />

<strong>die</strong> Wünsche der Welt erfüllten. (S. 146)<br />

Es bleibt nicht bei der Übereinstimmung zwischen dem Essayisten Walser <strong>und</strong> dem Erzähler<br />

der Verteidigung. Zu seinem Sprachrohr macht Walser mitunter auch <strong>die</strong> Hauptfigur des<br />

Romans, Alfred.<br />

<strong>Die</strong> Leere, <strong>die</strong> nach der Abreise der Mutter einriß, konnte er nur mit dem Kampf um einen Passierschein<br />

beantworten. In Genf saßen <strong>die</strong> Vertreter an einem Tisch <strong>und</strong> produzierten Taubheit. Jede Seite war ihrer<br />

Wahrheit so sicher, daß sie keinen Gr<strong>und</strong> sah, <strong>die</strong> Sprache der anderen Seite für eine Sprache zu halten.<br />

1 Vgl. Holub, Reception Theory, S. 95f.<br />

2 Stuart Taberner, „The Final Taboo? <strong>Martin</strong> Walser´s Critique of Philosemitism in Ohne einander“, in: Seminar.<br />

A Journal of Germanic Stu<strong>die</strong>s 37 (2001), S. 154 – 166, hier 158.<br />

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