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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Der <strong>Walsers</strong>chen Me<strong>die</strong>nkritik, mit der wir uns bisher beschäftigt haben, lag immer sein<br />

Verdacht gegen <strong>die</strong> medialen „Beeinflussungspotentiale“ 1 zugr<strong>und</strong>e. Es handelt sich bei<br />

<strong>die</strong>ser Kritik um eine Variante der so genannten „Kontrollthese“, nach der <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n eine<br />

Schlüsselrolle bei der ideologischen Manipulation spielen. Wenn man hingegen annimmt, daß<br />

das Streben nach Quote <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n dazu zwingt, dem Massengeschmack große<br />

Zugeständnisse zu machen, vertritt man <strong>die</strong> so genannte „Spiegelbild- oder Reflexionsthese“ 2 .<br />

<strong>Die</strong> Vertreter der „Kontrollthese“ beschuldigen <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n, vorhandene gesellschaftliche<br />

Mentalitäten im politischen Auftrag verändern zu wollen. <strong>Die</strong> Vertreter der „Reflexionsthese“<br />

beschuldigen <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n hingegen, dem Massengeschmack zu weit entgegenzukommen. Nun<br />

scheint <strong>Martin</strong> Walser außer der „Kontrollthese“ zugleich <strong>die</strong> „Reflexionsthese“ zu vertreten.<br />

Zum Vertreter der „Reflexionsthese“ macht er sich in den folgenden zwei Zitaten.<br />

Das ist […] <strong>die</strong> Natur des Mediums, das, wie immer sichtbarer wird, ein peinliches Echo der Natur des<br />

Menschen ist. […] im Fernsehkrawall schlägt der Atavismus voll durch. Da kann, seit <strong>die</strong> Marktwirtschaft<br />

<strong>die</strong> Einschaltquote braucht, gar nicht genug Brutalität <strong>und</strong> Brand aus Hollywood importiert werden. […]<br />

Irgendwann wird man prüfen, wie es kam, daß eine so extremistische Bewegung wie <strong>die</strong> der Skinheads in so<br />

kurzer Zeit <strong>und</strong> ohne Organisation soviel Zulauf finden konnte. Ich halte das auch für einen Fernseh-Effekt.<br />

[…] jedes neue Requisit in Großaufnahme vorgeführt, jeden Brand auf allen Kanälen 20mal wiederholt […] 3<br />

In the TV business, there´s a line everyone knows: Hitler boosts ratings. 4<br />

Das gleichzeitige Vertreten der „Kontrollthese“ <strong>und</strong> der „Reflexionsthese“ führt zu einem<br />

unvermeidlichen Paradox. Nach der „Kontrollthese“ präsentieren <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n der deutschen<br />

Bevölkerung <strong>die</strong> Aufnahmen von rechtsextremen <strong>und</strong> nationalsozialistischen Untaten, ohne<br />

daß <strong>die</strong>se Bevölkerung sie ansehen will. Deshalb reagiert sie mit dem „Wegschauen“<br />

(Walser). Nach der „Reflexionsthese“ sind <strong>die</strong> Menschen auf Gr<strong>und</strong> ihrer anthropologischen<br />

Ausstattung dafür vorprogrammiert, <strong>die</strong> Aufnahmen der Gewaltverbrechen zu genießen. Das<br />

wissen auch <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n. Deshalb behauptet Walser: „Hitler boosts ratings.“<br />

<strong>Walsers</strong> Variante der „Reflexionsthese“ ist etwa mit Botho Straußens Kritik an „dem<br />

Me<strong>die</strong>nbürger“ vereinbar, dem „jeder nur erdenkliche Schrecken zu seiner Unterhaltung<br />

<strong>die</strong>nt“. 5 <strong>Die</strong> <strong>Walsers</strong>che „Reflexionsthese“ wird auch von der modernen psychologischen<br />

Forschung gestützt. <strong>Die</strong>se gelangte zu der Einsicht, daß beim Besichtigen von Gewaltbildern<br />

ein „reizvoll-böse[r] Kick“ „nicht pathologisch, sondern normal“ ist. Der „Kick“ kann sich<br />

aber schnell zum Lustkomplex mit „sadistischen Anteilen“ auswachsen. <strong>Die</strong>ser „scheußliche<br />

Lustanteil“ rührt daher, daß der Mensch nach wie vor einen Teil seines Selbstbewußtseins auf<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit stützt, „ein potentieller Töter“ zu sein. 6 <strong>Die</strong> <strong>Walsers</strong>che „Reflexionsthese“<br />

wird schließlich von Jürgen Habermas bestätigt, der <strong>die</strong> wirkungspsychologischen Vorbehalte<br />

gegen Goldhagens Hitler´s Willing Executioners so summarisiert:<br />

1 Walser, „Über Macht <strong>und</strong> Gegenmacht“, S. 796.<br />

2 Michael Kunczik, Gewalt <strong>und</strong> Me<strong>die</strong>n, Köln/Wien: Böhlau, 1987, S. 148f.<br />

3 <strong>Martin</strong> Walser, „Deutsche Sorgen II“, in: Werke XI, S. 997 – 1010, hier 1002f.<br />

4 [Anonymus,] „´Hitler Boosts Ratings´. An interview with the writer at the center of the debate over the<br />

trivialization of the Holocaust“, in: Newsweek 51/1998, S. 23.<br />

5 Strauß, o. c., S. 28.<br />

6 Sibylle Tönnies, „<strong>Die</strong> scheußliche Lust. Über <strong>die</strong> Wehrmachtsausstellung“, in: FAZ, 12. 4. 1997, S. 29.<br />

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