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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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dem Vorwort zu der Geburt der Tragö<strong>die</strong> <strong>die</strong> Funktion der Kunst im Leben des modernen<br />

Menschen. <strong>Die</strong> Kunst <strong>und</strong> nicht <strong>die</strong> Religion ist fortan für Johann das Mittel, das Leiden <strong>und</strong><br />

den Mangel an Sinn zu kompensieren, mit denen man in der eigenen Lebenspraxis ständig<br />

konfrontiert ist. Es ist deshalb nur folgerichtig, daß Johanns Umgang mit Büchern später mit<br />

einer religiösen Metapher umschrieben wird.<br />

Ob er Schiller oder Meyer in <strong>die</strong> Hand nahm, es geschah nie ohne Andacht. (S. 388)<br />

4. 2. 2. Eine Ästhetik des Widerstands<br />

Eine gewisse Frau Fürst neigt gleich auf den ersten Seiten des Romans „den schwersten aller<br />

Köpfe <strong>die</strong>ses Dorfs <strong>und</strong> damit der Welt“ (S. 13). Eine halbe Seite weiter knüpft der Erzähler<br />

an seine Bezeichnung des Dorfs als Welt mit dem Satz an:<br />

Wie könnte das Dorf eine Welt sein, wenn es darin nur alles, aber von allem nicht auch noch das Gegenteil<br />

gäbe! (S. 13)<br />

Als der kleine Johann vom Friseur nach Hause radfährt, wird er von einem<br />

„Wanderphotograph[en]“ (S. 23) angehalten <strong>und</strong> abgelichtet. <strong>Die</strong> Kulisse für sein erstes<br />

Photoporträt bilden zwei „Mammutbäume“ (S. 20), <strong>die</strong> in dem Garten des Professors Hoppe-<br />

Seyler wachsen. Was Johann über <strong>die</strong>se Bäume denkt, wird in erlebter Rede mitgeteilt:<br />

Das waren <strong>die</strong> höchsten Bäume der Welt. (S. 20)<br />

Als Johann <strong>die</strong>sen Satz denkt, ist er sechs Jahre alt. Auch mit achtzehn Jahren glaubt er noch:<br />

Das Dorf war der Inbegriff der Menschheit. <strong>Die</strong> war höchst genau vertreten durch Frau Bank Gierer, Helmers<br />

Hermine, Herrn Sattler Gierer <strong>und</strong> all <strong>die</strong> anderen Gierers, Grübels, Zürns, Stadlers <strong>und</strong> Schnells. (S. 323)<br />

Johann <strong>und</strong> der Erzähler wenden auf das Dorf offensichtlich das „realistische[]<br />

Repräsentanzkriterium[]“ 1 an, das der programmatische Realismus des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts von<br />

der klassischen Ästhetik beerbt hat. Bezogen auf einen regionalen Roman besteht <strong>die</strong>ses<br />

Kriterium in der produktionsästhetischen Forderung, „das Individuelle <strong>und</strong> Lokale zum<br />

Allgemeinen zu erheben“ 2 , <strong>die</strong> Friedrich Schiller in seiner Abhandlung Über Bürgers<br />

Gedichte gegenüber Gottfried August Bürger geltend machte. Wenn man Schillers Diktion<br />

beibehält, wollen Johann <strong>und</strong> sein Erzähler das Dorf Wasserburg zur „Welt“ erheben. Aus<br />

rezeptionsästhetischer Perspektive kann man sagen, daß Johann <strong>und</strong> der Erzähler das Dorf als<br />

eine Erscheinung betrachten, aus der man das Wesen der „Welt“ unmittelbar herauslesen<br />

kann. Sie gehen somit stillschweigend von der Vorstellung der Welt als „´expressive[r]<br />

Totalität´“ aus, in der „´jeder Teil eine pars totalis ist, <strong>die</strong> das Ganze, welches ihr persönlich<br />

innewohnt, unmittelbar zum Ausdruck bringt´“. <strong>Die</strong>se Vorstellung ermöglicht „das<br />

´unmittelbare Herauslesen des Wesens aus der konkreten Erscheinung´“. 3 Das Wesen des<br />

1 Thomé, o. c., S. 38.<br />

2 Friedrich Schiller, „Über Bürgers Gedichte“, in: ders., Schillers Werke. Nationalausgabe. Zwei<strong>und</strong>zwanzigster<br />

Band. Vermischte Schriften, Weimar: Hermann Böhlaus Nachf., 1958, S. 245 – 264, hier 253.<br />

3 Eisele, Realismus <strong>und</strong> Ideologie, S. 22. Eisele bezieht sich bei seiner Charakterisierung des Konzepts der<br />

expressiven Totalität auf Louis Althusser. Vgl. dazu auch das Kapitel 1.2.1.<br />

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