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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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as it existed at the time“ 1 . In <strong>die</strong>sem Kontext benutzte er auch das Diktum von der Gnade der<br />

späten Geburt. 2 Das ausführlich geschilderte Gespräch des Herrn Stavenhagen mit seinen<br />

Tischgenossen bereitet also einen semantischen Kontext vor, in den Wolfs Rede über den<br />

„deutsche[n] Richter“ eingebettet werden kann. In <strong>die</strong>sem Kontext wird der b<strong>und</strong>esdeutsche<br />

Gerichtsvorsitzende auf <strong>die</strong> gleiche Stufe mit seinen Kollegen im NS-Deutschland gestellt.<br />

<strong>Die</strong> These, daß Dorle <strong>und</strong> Wolf eine weitreichende Analogie zwischen der<br />

b<strong>und</strong>esdeutschen <strong>und</strong> der nationalsozialistischen Staatsgewalt konstruiert, wird schließlich<br />

bestätigt, wenn man <strong>die</strong> Darstellung der Schicksalsverwandschaft zwischen Wolf <strong>und</strong> seinem<br />

Vater in den Blick nimmt. <strong>Die</strong> „Freikorpsvergangenheit“ (S. 126) von Wolfs Vater hatte seine<br />

„durch politische Umstände erzwungene Umsiedlung von Ostpreußen nach Thüringen“ (S.<br />

124) zur Konsequenz. Dort belieferte er später das KZ Buchenwald mit Milch, wurde aber<br />

selbst 1939 wegen unerlaubten Kontakts zu den Insassen inhaftiert <strong>und</strong> in das nämliche KZ<br />

eingeliefert (S. 24 <strong>und</strong> 34). Wenn Wolf über seinen Vater nachdenkt, stellt er <strong>die</strong><br />

bürgerkriegsähnlichen Zustände der früher Weimarer Republik <strong>und</strong> <strong>die</strong> NS-Herrschaft auf <strong>die</strong><br />

gleiche Stufe. Sie alle hatten Verwicklungen verursacht, <strong>die</strong> seinen Vater zu einem „aus der<br />

Bahn Geworfenen“ (S. 117) machten.<br />

Seit Wolf in Haft war, dachte er mehr über seinen Vater als je zuvor. […] Dem Vater hätten 1919 Riga <strong>und</strong><br />

Reval nicht leid tun sollen <strong>und</strong> 1939 nicht <strong>die</strong> Häftlinge im Lager Buchenwald. (S. 117; letzter Satz ist erlebte<br />

Rede Wolfs)<br />

<strong>Die</strong> Novelle Dorle <strong>und</strong> Wolf hat, wie bei Walser seit 1976 üblich, einen hetero<strong>die</strong>getischen<br />

Erzähler, der das Erzählgeschehen intern fokalisiert. Wir führen hiermit <strong>die</strong> erzählanalytische<br />

Terminologie von Gérard Genette ein. Der hetero<strong>die</strong>getische Erzähler ist ein solcher Erzähler,<br />

der in dem erzählten Plot – der <strong>die</strong>getischen Welt – nicht auftritt. <strong>Die</strong> interne Fokalisierung<br />

des Erzählgeschehens heißt, daß nur das erzählt wird, was im Wahrnehmungs-, Wissens- <strong>und</strong><br />

Reflexionsbereich einer Figur liegt. Das ist in der Regel <strong>die</strong> Hauptfigur. In der Novelle Dorle<br />

<strong>und</strong> Wolf wird aus Wolfs Perspektive erzählt, er ist das Medium der internen Fokalisierung.<br />

<strong>Die</strong> jetzt charakterisierte Erzählform macht es dem Erzähler möglich, <strong>die</strong> brisanten<br />

vergangenheitspolitischen Aussagen Wolfs durch keine Außenansicht zu relativieren. Das gilt<br />

für Wolfs Gleichung „Riga <strong>und</strong> Reval“ = „Buchenwald“ genauso wie für seine Überlegungen<br />

über den „deutsche[n] Richter“. Es gilt auch für den Brief, den Wolf aus dem Gefängnis an<br />

seinen Vater schreibt. In <strong>die</strong>sem Brief zieht er einen Vergleich zwischen der KZ-Haft seines<br />

Vaters <strong>und</strong> seiner eigenen Inhaftierung in der B<strong>und</strong>esrepublik.<br />

Seinem Vater schrieb er, er wäre glücklich, wenn <strong>die</strong> Gründe, <strong>die</strong> ihn ins Gefängnis gebracht hatten, sich<br />

sehen lassen könnten neben denen, <strong>die</strong> seinen Vater ins KZ gebracht hatten. (S. 116)<br />

Später, als <strong>die</strong> gnadenlose Staatsanwältin ein hohes Strafmaß fordert, beschäftigen Wolf<br />

Überlegungen über eine deutsche Opfer- <strong>und</strong> Tätergenealogie.<br />

Wahrscheinlich kommen <strong>die</strong> Staatsanwälte immer aus den gleichen Familien. Und <strong>die</strong> Verurteilten auch. […]<br />

Wie viele Verurteilte stammen aus Familien, aus denen Verurteiler stammen? Und umgekehrt: wie viele<br />

Verurteiler stammen aus Familien, aus denen Verurteilte stammen? Eine reinlichere Scheidung, als sich hier<br />

ergeben wird, kann sich nirgends sonst ergeben. Aus Familien, <strong>die</strong> sich von Haus aus immer mehr<br />

Rechtfertigung verschaffen können, als sie für sich brauchen, kommen <strong>die</strong> Verurteiler. Wenn man von<br />

1 Stuart Parkes, Understanding Contemporary Germany, London/New York: Routledge, 1997, S. 149.<br />

2 Walser äußerte sich zu der Filbinger-Causa kurz in dem Essay „Unsere historische Schuldigkeit“ (S. 609).<br />

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