21.01.2013 Aufrufe

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

eigenen Bedeutungen zuweisen kann. <strong>Die</strong> moderne Kunst versucht nun, <strong>die</strong>se arbiträr<br />

gewordenen Zeichen in einer Konfiguration anzuordnen, in der <strong>die</strong> göttliche Wahrheit für<br />

einen Augenblick in Erscheinung treten kann. 1 Aber auch in <strong>die</strong>sem Augenblick ist <strong>die</strong><br />

göttliche Wahrheit nicht ganz präsent, denn <strong>die</strong> „Utopie der Präsenz markiert einen Anfang<br />

der ästhetischen Moderne ebenso wie das Eingeständnis ihrer Unerreichbarkeit“ 2 .<br />

Wir haben somit zwei Leitsätze moderner <strong>und</strong> postmoderner Erkenntnistheorie<br />

angesprochen: <strong>die</strong> Temporalisierung <strong>und</strong> <strong>die</strong> Perspektivierung des Sinns. <strong>Die</strong> modernen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> postmodernen <strong>Konstruktion</strong>en der personalen Identität gehen von den gleichen<br />

erkenntnistheoretischen Voraussetzungen aus, ziehen aus ihnen aber verschiedene<br />

Konsequenzen. Auf <strong>die</strong>se Konsequenzen werden wir eingehen, nachdem wir den Begriff der<br />

personalen Identität eingeführt haben.<br />

Wir gehen mit Jürgen Straub „davon aus, daß <strong>die</strong> Begriffe Identität <strong>und</strong> Individualität für<br />

zwei sachlich unbedingt zu unterscheidende Aspekte einer Theorie menschlicher Subjektivität<br />

stehen“ 3 . Individualität heißt demnach Einzigartigkeit. Es ist eine absolute Einzigartigkeit<br />

vorstellbar, <strong>die</strong> „in keiner Ordnung, keiner Struktur rationalen Wissens, keiner Sprache,<br />

keiner Grammatik, keinem Zeichensystem, keiner Hermeneutik restlos aufgeht, also niemals<br />

vollständig vermittelbar <strong>und</strong> mitteilbar ist“ 4 . Dann gilt: individuum est ineffabile, das Ich ist<br />

unaussprechlich. Aber es ist auch eine Einzigartigkeit vorstellbar, <strong>die</strong> dadurch entsteht, daß<br />

das Individuum sich einen unverwechselbaren Platz innerhalb des „Koordinatensystem[s] des<br />

physikalischen, leiblichen, sozialen, moralischen <strong>und</strong> zeitlichen Raums“ 5 zuweist. <strong>Die</strong>se<br />

Individualität läßt sich auch sprachlich artikulieren, sie ist nicht unaussprechlich.<br />

<strong>Die</strong> personale Identität hingegen meint den Zustand, in dem man sich mit seinen<br />

Sinnorientierungen identifizieren kann. Sie setzt also eine Lebensform voraus, <strong>die</strong> das<br />

Bekenntnis zu den eigenen Sinnorientierungen ermöglicht. Für das Zustandekommen der<br />

personalen Identität ist irrelevant, ob <strong>die</strong>se Sinnorientierungen individuell sind oder mit<br />

anderen Menschen geteilt werden. <strong>Die</strong> personale Identität kann individuell oder kollektiv sein.<br />

Wenn bestimmte Inhalte <strong>die</strong> Identität größerer Anzahl von Menschen konstituieren, entsteht<br />

eine kollektive Identität. Der Begriff „kollektive Identität“ bezeichnet also eine personale<br />

Identität, <strong>die</strong> vielen Menschen gemeinsam ist. Der Begriff „individuelle Identität“ bezeichnet<br />

hingegen eine personale Identität, <strong>die</strong> wenigen Menschen gemeinsam ist oder <strong>die</strong> man man<br />

mit keinem Menschen gemeinsam hat. Deshalb können <strong>die</strong> Begriffe „kollektive Identität“ <strong>und</strong><br />

„individuelle Identität“ unter dem Begriff der personalen Identität subsumiert werden; sie sind<br />

formale Spezifikationen <strong>die</strong>ses Begriffs. Der Begriff „nationale Identität“ ist hingegen eine<br />

inhaltliche Spezifikation des Begriffs „kollektive Identität“: er benennt <strong>die</strong> Beschaffenheit der<br />

kollektiv geteilten Identitätsinhalte. In <strong>die</strong>sem Sinne werden <strong>die</strong> Begriffe „personale<br />

Identität“, „individuelle Identität“, „kollektive Identität“ <strong>und</strong> „nationale Identität“ in der<br />

ganzen Arbeit verwendet.<br />

1<br />

Vgl. Harald Steinhagen, „Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie“, in: Walter Haug (Hrsg.), Formen <strong>und</strong><br />

Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, Stuttgart: Metzler, 1979, S. 666 – 685.<br />

2<br />

Gerhart von Graevenitz, „´Schreib-Ende´ <strong>und</strong> ´Wisch-Ende´. Lichtenbergs zeichentheoretischer Kommentar zu<br />

Hogarths ´Weg der Buhlerin´“, in: Zur Ästhetik der Moderne. Für Richard Brinkmann zum 70. Geburtstag,<br />

(Hrsg. nicht angegeben), Tübingen: Niemeyer, 1992, S. 1 – 32, hier 2.<br />

3<br />

Jürgen Straub, „Personale <strong>und</strong> kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs“, in: Aleida<br />

Assmann – Heidrun Friese (Hrsg.), Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, S.<br />

73 – 104, hier 78.<br />

4<br />

Ibidem, S. 79.<br />

5<br />

Ibidem, S. 86.<br />

15

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!