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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Der Erzählteil des Romans setzt das Programm um, das <strong>die</strong> Erinnerungsreflexionen<br />

formulieren. Viele Rezensenten heben an dem Erzählen, das in Ein springender Brunnen<br />

vorherrscht, gerade jene Elemente hervor, <strong>die</strong> im Akt des Lesens <strong>die</strong> Referenzillusion fördern<br />

dürften. Reinhard Baumgart will „[s]ofort […] in den Sog eines bei Walser ungewohnten<br />

lakonischen Erzähltons“ 1 geraten. Andrea Köhler bemerkt, daß der Erzähler Johann als sein<br />

„jüngeres Alter ego sogar vor der eigenen Ironie in Schutz“ 2 nimmt. Nach <strong>Martin</strong> Oehlen<br />

„schaufelt Walser das Vergangene frei […] in einer Sprache, <strong>die</strong> auffälligerweise keine<br />

Kapriolen vollführt, so als sollte alle Konzentration auf <strong>die</strong> Ereignisse gelenkt werden“ 3 . Jörg<br />

Magenau spricht über das „demonstrativ <strong>und</strong>emonstrative Erzählen“ 4 . Joanna Jabłkowska<br />

erkannte <strong>die</strong> parataktische Gr<strong>und</strong>struktur <strong>die</strong>ses Erzählens – das häufige Vorkommen<br />

einfacher Satzverbindungen <strong>und</strong> <strong>die</strong> relative Seltenheit komplizierterer Satzgefüge. <strong>Die</strong>se<br />

Textstruktur minimiert nach Jabłkowska <strong>die</strong> Bereitschaft des Lesers zu „eine[r] intellektuell<br />

vertiefte[n] Reflexion“ 5 über den Wirklichkeitscharakter des Erzählten.<br />

In dem Erzählteil der Romans wird <strong>die</strong> Programmatik der Erinnerungsreflexionen noch in<br />

einem anderen Aspekt konsequent umgesetzt. In der „Vergangenheit als Gegenwart“ wird <strong>die</strong><br />

Erinnerung daran, „wie es war“, mit einem „Traumhausbau“ verglichen. <strong>Die</strong> allegorische<br />

Erzählung über <strong>die</strong> Erinnerung als nächtliche Zugfahrt legt nahe, daß <strong>die</strong>ser Traum nachts<br />

geträumt wird. Jedenfalls zergeht <strong>die</strong>ser Traum, wenn er „ins Licht einer anderen Sprache<br />

gezogen[]“ wird (siehe <strong>die</strong>ses Kapitel weiter oben). <strong>Die</strong> „furchtbare Egalität der Motive“ 6 , <strong>die</strong><br />

Reinhard Baumgart in dem Roman ausmacht, wäre womöglich ein Charakteristikum der<br />

Ästhetik des Nachttraums. In seinem philosophischen Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung<br />

schreibt Ernst Bloch:<br />

Das macht immer wieder [sic]: der Nachttraum lebt in Regression, er wird in seine Bilder wahllos<br />

hineingezogen, der Tagtraum projiziert seine Bilder in Künftiges, durchaus nicht wahllos, sondern noch bei<br />

ungestümster Einbildungskraft dirigierbar, mit objektiv Möglichem vermittelbar. 7<br />

<strong>Die</strong> Ästhetik des Nachttraums beschreibt Bloch mit visuellen Metaphern – er redet über<br />

„Bilder“ <strong>und</strong> Projektionen. In ihrer ´Egalität der Motive´ kann man <strong>die</strong> Ästhetik des<br />

Nachttraums denn auch mit der Ästhetik bestimmter visueller Me<strong>die</strong>n vergleichen,<br />

vornehmlich mit der Ästhetik der Photographie. Das gilt besonders für <strong>die</strong> so genannte Totale,<br />

<strong>die</strong> Gesamtansicht einer Szene, <strong>die</strong> das „Nebensächliche mit derselben Genauigkeit wie das<br />

Wichtigere“ 8 aufnimmt. Eine so verstandene Ästhetik der Photographie war auch das<br />

1<br />

Reinhard Baumgart, „Epen in Wasserburg. <strong>Martin</strong> Walser verteidigt seine Kindheit“, in: <strong>Die</strong> Zeit 33/1998, S.<br />

35.<br />

2<br />

Andrea Köhler, „<strong>Die</strong> überlistete Zeit, das wiedergef<strong>und</strong>ene Ich. <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Kindheitsroman ´Ein<br />

springender Brunnen´“, in: NZZ, 22./23. 8. 1998, S. 50.<br />

3<br />

<strong>Martin</strong> Oehlen, „<strong>Die</strong> Welt in Wasserburg“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 29. 7. 1998, S. 16.<br />

4<br />

Jörg Magenau, „Abschied von der Einmischung“, in: TAZ, 25./26. 7. 1998, S. 11.<br />

5<br />

Joanna Jabłkowska, „Brocken, <strong>die</strong> heilig geworden sind. Zu <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Heimatbewußtsein“, in: Wolfgang<br />

Braungart – Manfred Koch (Hrsg.), Ästhetische <strong>und</strong> religiöse Erfahrungen der Jahrh<strong>und</strong>ertwenden. III: um<br />

2000, Paderborn/München/Wien/Zürich: Ferdinand Schöningh, 2000, S. 99 – 117, hier 106. Vgl. auch <strong>die</strong>s.,<br />

„Zwischen Heimat <strong>und</strong> Nation. <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> ´Deutsche Sorgen´“, in: <strong>die</strong>s. – Malgorzata Pólrola (Hrsg.),<br />

Nationale Identität. Aspekte, Probleme <strong>und</strong> Kontroversen in der deutschsprachigen Literatur, Lódž:<br />

Wydawnictvo Uniwersytetu Lódzkiego, 1998, S. 451 – 464, hier 452.<br />

6<br />

So in der Sendung Literatur im Foyer. <strong>Martin</strong> Walser hat <strong>die</strong>ser Einschätzung Baumgarts beigepflichtet.<br />

7<br />

Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Erster Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1979, S. 111.<br />

8<br />

Gerhard Plumpe, „Einleitung“, in: ders. – McInnes (Hrsg.), Bürgerlicher Realismus <strong>und</strong> Gründerzeit 1848 –<br />

1890, S. 17 – 83, hier 60. Plumpe bezieht sich auch auf <strong>die</strong> Ästhetik der Photographie.<br />

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