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Martin Walsers doppelte Buchführung. Die Konstruktion und die ...

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Da auch unsere Lektüre der Verteidigung in <strong>die</strong>sem Sinne partiell ist, erübrigt es sich, <strong>die</strong><br />

ganze Forschung, <strong>die</strong> zu dem Roman vorliegt, ausführlich zu kommentieren. <strong>Die</strong><br />

Bedeutungsebenen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Forschung in dem Roman identifiziert hat, sollten aber kurz<br />

charakterisiert werden, bevor wir uns selbst einer <strong>die</strong>ser Ebenen zuwenden.<br />

Wenn wir uns dazu entscheiden, <strong>die</strong> Verteidigung als individuelles Psychogramm zu lesen,<br />

können wir mit dem Titelbild anfangen. <strong>Die</strong> Zeichnung auf dem Einband des Romans, <strong>die</strong><br />

Alissa Walser beigesteuert hat, zeigt einen Menschen, der mit gesenktem Kopf <strong>und</strong><br />

angezogenen Beinen dasitzt. Seine Knie berühren fast das Gesicht. Es handelt sich offenbar<br />

um einen Menschen, der gerade Einkehr hält, womöglich um einen stark introvertierten<br />

Menschen. Das verrät jedenfalls seine körperliche Haltung. Das Bild, auf dem er zu sehen ist,<br />

ist von seinem Rahmen abgetrennt. Der Gezeichnete fällt also buchstäblich aus dem Rahmen,<br />

er mag Schwierigkeiten haben, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden.<br />

Genau das ist bei der Hauptfigur Alfred Dorn der Fall. Man kann ihn als einen Sonderling<br />

betrachten – <strong>Martin</strong> Lüdke stellt sogar <strong>die</strong> Frage, „´was an <strong>die</strong>sem sonderbaren Fall von<br />

allgemeinem Interesse sein könnte´“ 1 . Alfred ist ein „deutsches Muttersöhnchen“ 2 , der<br />

praktisch vaterlos aufwächst (S. 262), obwohl sein Vater <strong>die</strong> Mutter überlebt. Seine Mutter<br />

erzieht ihn so, daß er zu ihren Lebzeiten <strong>und</strong> auch nach ihrem Tode auf sie fixiert bleibt (S.<br />

70). Deshalb bleibt er sein Leben lang ohne Partnerin <strong>und</strong> ohne soziale Kontakte.<br />

Nur bei ihr war eine Bleibe. Seine Bleibe. Sie war seine Bleibe. (S. 166)<br />

Alfred verehrt seine Mutter geradezu fetischistisch, es zieht ihn immer wieder zu ihrer<br />

„Unterwäsche“ (S. 270). Er ten<strong>die</strong>rt dazu, sich mit ihr so sehr zu identifizieren, daß er sie fast<br />

als einen Teil von sich selbst betrachtet (S. 166). In psychoanalytischer Terminologie könnte<br />

man sagen, er macht sie zu seinem Selbst-Objekt. <strong>Die</strong>se psychische Störung hat er mit Franz<br />

Horn aus <strong>Walsers</strong> Roman Brief an Lord Liszt (1982) gemeinsam. 3 Mit der Hauptfigur des<br />

Romans Brandung teilt Alfred <strong>die</strong> regressive Utopie, in den mütterlichen Körper<br />

zurückzukehren. 4<br />

Man hat sich nicht danach gedrängt, geboren zu werden […] (S. 80)<br />

1<br />

Zit. nach: Stuart Parkes, „Looking forward to the Past: Identity and Identification in <strong>Martin</strong> Walser´s <strong>Die</strong><br />

Verteidigung der Kindheit“, in: ders. – Arthur Williams (Hrsg.), The Individual, Identity and Innovation. Signals<br />

from Contemporary Literature and the New Germany, Bern/Berlin/Frankfurt am Main/New York/Paris/Wien:<br />

Peter Lang, 1994, S. 57 – 74, hier 73.<br />

2<br />

Franz Kotteder, „Ein deutsches Muttersöhnchen. <strong>Martin</strong> Walser liest in der Uni-Aula aus der ´Verteidigung der<br />

Kindheit´“, in: SZ, 21. 1. 1998, S. 16.<br />

3<br />

Vgl. Tilmann Moser, „Selbsttherapie einer schweren narzißtischen Störung. <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> Brief an Lord<br />

Liszt“, in: ders., Romane als Krankengeschichten. Über Handke, Meckel <strong>und</strong> <strong>Martin</strong> Walser, Frankfurt am Main:<br />

Suhrkamp, 1985, S. 77 – 141. Man kann an <strong>die</strong>ser Stelle Ähnlichkeiten mit <strong>Martin</strong> <strong>Walsers</strong> eigener psychischer<br />

Entwicklung vermuten. Er hat in einem Interview gesagt: „´So waren meine Mutter <strong>und</strong> ich ein ähnliches Paar<br />

wie Alfred <strong>und</strong> seine Mutter. Nur gab es bei uns kein bißchen Ausdruck dafür.´“ Zit. nach: Heidi Gidion, „Sohn-<br />

Sein, mehrfach. Vom Stoff zur Figur in den Romanen ´Ein springender Brunnen´ <strong>und</strong> ´<strong>Die</strong> Verteidigung der<br />

Kindheit´“, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 41/42. <strong>Martin</strong> Walser,<br />

München: Richard Boorberg, 2000, S. 50 – 61, hier 58. Auch Hellmuth Karasek meint, daß „<strong>die</strong> dichterische<br />

Darstellung des Verhältnisses des Dresdener Muttersöhnchens zu seiner Mutter in dem Roman ´Verteidigung<br />

einer Kindheit´ [sic] (1991) sehr starke Resonanzen zu <strong>Walsers</strong> Mutter […] haben“ dürfte. Vgl. seinen Aufsatz<br />

„<strong>Martin</strong> Walser – <strong>Die</strong> Verteidigung der Herkunft“, in: Werner Brändle (Hrsg.), Identität <strong>und</strong> Schreiben. Eine<br />

Festschrift für <strong>Martin</strong> Walser, Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms, 1997, S. 5 – 15, hier 13.<br />

4<br />

Frank Pilipp, „Zur Subjektivität bei <strong>Martin</strong> Walser. Ansätze zu einer Lacan´schen Interpretation von<br />

Brandung“, in: Colloquia Germanica. Internationale Zeitschrift für Germanistik 29 (1996), S. 337 – 349.<br />

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