Band 29 - thule-italia.net
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Aufgange nahe. Die Alabasterkrone hoch oben lag bereits in vollster, goldiger Glut. Sie flimmerte wie von<br />
millionen Diamanten und Rubinen. Aber tief unter ihr war es unheimlich, denn da begann es sich zu regen<br />
und zu bewegen, und man konnte doch nicht deutlich erkennen, wo und wie. Es war wie ein langsames<br />
Wiegen hin und her. Hier und hier und dort und da schütterte und verschwand der Boden in sich hinein, in<br />
die Tiefe, wie durch sich bildende Schächte. Wir hörten einen Knall, als ob die Erde von innen heraus<br />
auseinandergesprengt werde. Es folgte ein steinernes Knacken und Prasseln, wie von einem gigantischen<br />
Ungeheuer, welches Berge verzehrt und die Felsenknochen derselben mit den Zähnen zermalmt. Und da -<br />
da -- da tat sich vor unsern Augen da drüben ein furchtbarer Rachen auf und begann die Ruinen mitsamt<br />
den herabgestürzten Höhenmassen zu verschlingen! Und während sie in diesem heißhungrigen, gefräßigen<br />
Schlund verschwanden, schoß ihm das emporgetriebene Wasser der Tiefe über die Lefzen und wurde zu<br />
gleicher Zeit mit einer solchen Gewalt aus dem Kanal in den See gepreßt, daß es sich wie ein beutegieriger,<br />
springender Leviathan über seine Fläche stürzte und erst weit draußen verendend niedersank.<br />
Wir aber achteten weder auf den jetzt plötzlich in hohen Wellen gehenden See, in den sich der ganze Inhalt<br />
der unterirdischen Bassins zu ergießen hatte, noch auf sonst etwas Anderes, sondern nur auf eine einzige<br />
Stelle, die unsere Aufmerksamkeit in fast wunderbarer Weise gefangennahm. Wir sahen von den Ruinen<br />
nur noch die vordere Mauer. Alles, was hinter und über ihr gelegen hatte, war verschwunden, in ein<br />
vollständig ebenes Feld verwandelt, fast genau so, wie es von der Kirchenzeichnung des Ustad dargestellt<br />
wurde. Und grad da, wo auf dieser Zeichnung im Hintergrunde der Säulenhalle das leere Postament stand,<br />
leuchtete uns die herrliche Alabastergestalt des durch die Katastrophe nun endlich erlösten »verzauberten<br />
Gebetes« entgegen. Vom dunkeln Hintergrunde der Nische uns doppelt hell gezeigt, streckte es seine<br />
emporgehobenen Arme dem Aufgange der Sonne entgegen, um mit offenen Händen den Segen zu nehmen<br />
und zu spenden, in den der tausendjährige Fluch verwandelt worden war. Und wie sie nun emporstieg, die<br />
ersehnte Sonne, so kam ihr Licht von der funkelnden Alabasterkrone hernieder, wie auf Engelsschwingen<br />
getragen, die sich hold und froh zur Erde senken. Sie küßte die Stirn, die Wangen, den Mund des genau<br />
unter dieser Krone stehenden Gebetes und floß dann über das ganze Tal, um zu verkünden, daß es bisher<br />
nur Morgen gewesen, nun aber endlich und wirklich Tag geworden sei.<br />
Der Ustad sprach kein Wort. Er hatte meine Hand ergriffen und drückte sie mir so, daß es allerdings keiner<br />
Worte bedurfte, ihn zu verstehen. Um so lauter waren die hinter uns Stehenden. Ihr Dogma zwang sie, die<br />
auf so rätselhafte Weise erschienene Figur als einen Greuel zu betrachten, denn Allah hat verboten, von<br />
beseelten Wesen Bilder anzufertigen. Wer vor Bildern betet, ist ein Götzendiener. Wer aber gar Bilder<br />
selbst beten läßt, der ist ein Gotteslästerer, wie es keinen größern geben kann. Sie sagten das ganz ungeniert<br />
und in so scharfen Ausdrücken, daß ich die Selbstbeherrschung des Ustad bewunderte, der sich zu ihnen<br />
umdrehte und sie fragte, was sie eigentlich hier an dieser Stelle zu suchen hätten. Da öff<strong>net</strong>e der Selige den<br />
Mund und hielt seine Rede, deren Grundgedanke die Behauptung war, daß kein Einziger von ihnen jemals<br />
daran gedacht habe, irgend etwas Feindseliges gegen die Dschamikun zu unternehmen. Sie seien keine<br />
Feinde und also augenblicklich freizulassen. Zur Bekräftigung gebe er im Namen Aller sein Ehrenwort, daß<br />
er die Wahrheit gesprochen habe.<br />
»Im Namen Aller? Wirklich?« fragte der Ustad, indem er sie anschaute und sein Auge auf jedem Einzelnen<br />
ruhen ließ.<br />
Da erhoben sie ihre Hände zum Zeichen der Bejahung, keiner von ihnen ausgenommen. Der Ustad nickte<br />
mir und Kara zu, ihm zu folgen. Er ging, ohne Antwort zu geben. Wir bestiegen unsere Pferde und ritten<br />
nach dem Duar. Unten angekommen, teilte er dem Oberleutnant mit, daß die Gefangenen frei seien, aber<br />
das Gebiet der Dschamikun sofort zu verlassen hätten.<br />
»Frei?« rief Kara, der sich doch nicht halten konnte, fast zornig aus. »Sie haben ja bei ihrer Ehre gelogen,<br />
alle, alle! Der Selige, der Heilige, der Imam, die Generale und sämtliche Taki, vom Ersten bis zum<br />
Letzten!«<br />
»Das weiß ich ebenso gut, wie sie es selbst auch wissen,« antwortete der Ustad lächelnd. »Aber grad darum<br />
gebe ich sie frei, denn solche Ehrenmänner möchte ich nicht einmal als Gefangene bei mir haben! Verstehst