Band 29 - thule-italia.net
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Du warst ja einst auf jenen Berg gestiegen,<br />
Den man als Stätte der Verklärung preist,<br />
Und mußtest beide, Grab und Tod, besiegen<br />
In deiner Kraft als erdenfreier Geist.<br />
Nun komme ich zum Auferstehungstag<br />
Und sage dir: die Steine sind verschwunden.<br />
Die Jünger sahen früh im Grabe nach<br />
Und haben deinen Leichnam nicht gefunden.<br />
Soll wohl der Geist hier in der Gruft verbleiben,<br />
Wo doch der Körper längst schon auferstand?<br />
Steh auf, steh auf! Es giebt noch viel zu schreiben,<br />
Jedoch von jetzt nur mit --- der Geisterhand!«<br />
Ich las es noch einmal und dann zum dritten Male. Welch ein Gedicht! Ich meine nicht etwa den<br />
künstlerischen Wert desselben. Der ging und geht mich gar nichts an. Es war nicht die Form, sondern es<br />
war der Geist, der vor mir stand. Ich sah ihn deutlich, mit allem, was ich loben konnte, und auch mit allem,<br />
was ich an ihm tadeln mußte. Der Mann, der diese Zeilen geschrieben hatte, war aber unbedingt auch<br />
körperlich in Jersualem gewesen. Ich sah ihn durch das Jaffator kommen und geradeaus auf jenem<br />
Stufenwege schreiten, welcher hinab nach dem »Heiligtume« führt. Aber dorthin wollte er gar nicht,<br />
sondern er bog nach links, in die engen Bazare, die auf das Thor von Damaskus münden. Dort wendete er<br />
sich rechts, dem »Leidenswege« zu, hinauf nach Golgatha, dessen Stätte ein Gegenstand der Phantasie<br />
geworden ist, weil man die rechte Stelle nicht mehr kennt. Im tiefen Winkel liegt die »Klagemauer«. Hier<br />
hörte man die wahre Sehnsucht einst nach der Erlösung rufen. Jetzt aber kratzt man sich dort am Gestein<br />
die Finger blutig wund, nur um ein karges Bakschisch (* Geschenk, Bettlergabe.) zu erhalten. So geht<br />
überall, nicht bloß im heiligen Jerusalem, die Menschheitsseele betteln, wenn sie den Geist verlor, der hier<br />
ihr Führer ist, damit dann sie ihn fort, nach oben, leite! Er aber, dieser Geist, schleicht forschend durch den<br />
Sukh (** Bazar.) des niederen Lebens, an Kesselflickern, Krämern und Wechsel-Habichten vorbei, nach<br />
dieser Seele suchend, die er verlieren mußte, weil er sein Herz an eitle Dinge hing! Und wenn er sie nicht<br />
findet, geht er hinaus vor Salems alte Mauern, steigt hin und her in jenen öden Thälern, wohin die Stadt das<br />
Aas gefallener Tiere sendet, am Oelberg dann hinauf, wo an dem Weg nach Jericho das Volk der Hammel<br />
abgeschlachtet wird. Und wenn er oben angekommen ist und von der höchsten Stelle des einstigen Jebus<br />
sein Morijah liegen sieht, so wallt es tief entrüstet in ihm auf. Er schüttelt seine Hände, in denen doch<br />
nichts ist, streng über Salem aus und klagt im Tone schmerzlicher Enttäuschung: »Ich kam zu dir --- was<br />
habe ich gefunden?!«<br />
Jetzt stand er dort am Fenster, den Rücken mir zugekehrt. Er achtete nicht auf mich, war nur in sich<br />
versunken. Die letzte Seite seines »Leidensweges« war noch leer. Tinte und Feder gab es hier auf dem<br />
Tische.<br />
Wer war's, der in mir sprach? Der mir befahl, zu schreiben, was ich hörte ? Ich that es! Ich hielt mich ganz<br />
an seine eigene Weise. Dasselbe Metrum und dieselbe Zahl der Verse. Drei Strophen, so wie er, genau auch<br />
so beginnend: »Ich kam ---«; »Ich kam ---«, und dann: »Nun komme ich ---«! Er sah nicht, daß ich schrieb.<br />
Ich wurde fertig, schloß das Buch und ging vom Tische weg. Da drehte er sich um, verließ das Fenster und<br />
ging dorthin, wo ich geschrieben hatte. Dort blieb er stehen. Es war ein tiefer Ton, in dem er langsam<br />
sprach:<br />
»Wo habe ich's gelesen? Vielleicht auch las ich's nicht. Erzählte man es mir? Hat mirs ein Traum gebracht?<br />
Ich weiß es nicht, doch ist es in mir da. Ich will es dir jetzt sagen.«<br />
Nun hob er den Blick und sah mich an. Da glitt es wie etwas Helles über sein Gesicht, und er rief aus:<br />
»Es hatte deine Augen! Ganz dieselben Augen, die jetzt im Schatten liegen und doch so hell erscheinen!<br />
Sonderbar!«