Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
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<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />
Der Tempel des Jupiter<br />
Neben den Quellen des Erebus erhebt sich der Berg Kaukaion. Dichte<br />
Eichenwälder umgürten ihn. Ein Ring von Felsen und zyklopischen Steinen bildet<br />
seine Krone. Seit Tausenden von Jahren war dieser Berg geheiligt. <strong>Die</strong> Pelasgier, die<br />
Kelten, die Skythen und die Geten, die sich gegenseitig verjagten, kamen<br />
abwechselnd hierher, um ihre verschiedenen Götter anzubeten. Aber ist es nicht<br />
immer derselbe Gott, den der Mensch sucht, wenn er so hoch steigt? Wenn nicht,<br />
warum würde er ihm mit so vieler Mühe eine Wohnung bauen in der Region des<br />
Donners und der Winde?<br />
Jetzt erhebt sich ein Tempel Jupiters im Mittelpunkt des geweihten Umkreises,<br />
massiv, unzugänglich, wie eine Festung. Den Eingang bildet ein Peristyl von vier<br />
dorischen Säulen, dessen riesige Schäfte sich von einem dunklen Portikus abheben.<br />
Im Zenit ist der Himmel klar; aber noch grollt das Gewitter über den Bergen<br />
Thrakiens, die in der Ferne ihre Täler und Gipfel aufrollen wie ein vom Sturm<br />
aufgewühlter und vom Blitz durchfurchter Ozean.<br />
Es ist die Stunde des Opfers. <strong>Die</strong> Priester vom Kaukaion bringen kein anderes<br />
Opfer dar als das Feuer. Sie steigen die Stufen des Tempels hinunter und entzünden<br />
das dargebrachte aromatische Holz mit einer Fackel des Heiligtums. Endlich tritt der<br />
Pontifex aus dem Tempel. In weißes Leinen gehüllt wie die anderen, trägt er einen<br />
Kranz von Myrten und Cypressen. Er hat ein Zepter von Ebenholz und Elfenbein und<br />
einen goldenen Gürtel, aus welchem Kristalle ein dunkles Feuer erstrahlen lassen,<br />
Sinnbild einer geheimnisvollen Herrscher würde. Es ist Orpheus.<br />
Er hält an der Hand einen Jünger, ein Kind von Delphi, der bleich, zitternd und<br />
verzückt die Worte des <strong>großen</strong> Inspirierten mit dem Schauer der Mysterien erwartet.<br />
Orpheus sieht es; und um den auserwählten Mysten seines Herzens zu beruhigen, legt<br />
er ihm sanft den Arm um die Schulter. Seine Augen lächeln, aber plötzlich flammen<br />
sie auf. Und während zu ihren Füßen die Priester um den Altar herumgehen und den<br />
Hymnus des Feuers singen, spricht Orpheus feierlich zum geliebten Mysten Worte<br />
der Einweihung, die in die Tiefe seines Herzens wie göttlicher Balsam fallen.<br />
Das sind die geflügelten Worte des Orpheus an seinen jugendlichen Schüler:<br />
»Versenke dich in das tiefste Innere deines Selbst, um dich bis zum Ursprung der<br />
Dinge zu erheben, zur <strong>großen</strong> Triade, die im makellosen Äther flammt. Verbrenne<br />
deinen Körper durch das Feuer deines Gedankens; löse dich von der Materie wie die<br />
Flamme vom Holz, das sie verzehrt: Dann wird dein Geist sich zum reinen Äther der<br />
ewigen Ursachen emporschwingen wie der Adler zum Thron des Jupiter.<br />
Ich werde dir das Geheimnis der Welten offenbaren, die Seele der Natur, das<br />
Wesen Gottes. Ein einziges Wesen herrscht im tiefen Himmel und im Abgrund der<br />
Erde, Zeus der Donnerer, Zeus der Ätherische. Er ist die tiefe Weisheit, der mächtige<br />
Haß und die köstliche Liebe. Er herrscht in der Tiefe der Erde und in den Höhen des<br />
gestirnten Himmels: Er ist der Hauch der Dinge, das ungebändigte Feuer, männlich<br />
und weiblich, ein König, eine Macht, ein Gott, ein großer Meister.<br />
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