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Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten

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<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />

Pilatus ist gezwungen, sich zu ergeben und das Urteil zu fällen. Der Schatten Cäsars<br />

schickt ihn zum Kreuz. Hierin liegt eine tiefe Logik der Dinge: die Juden haben ihn<br />

ausgeliefert aber das römische Gespenst tötet ihn. Es tötet seinen Körper; aber er, der<br />

glorreich gewordene Christus, ist es, der durch sein Martyrium dem Cäsar für immer<br />

wegnimmt den usurpierten Glorienschein, die göttliche Apotheose, diese höllische<br />

Lästerung der absoluten Gewalt.<br />

Pilatus, nachdem er sich die Hände vom Blut des Unschuldigen gewaschen hat,<br />

spricht das schreckliche Wort aus: »Condemno, ibis in crucem.« Schon drängt die<br />

ungeduldige Menge zu Golgatha. Nun sind wir auf der kahlen, mit<br />

Menschengebeinen bestreuten Anhöhe, die Jerusalem überragt und den Namen<br />

Gilgal, Golgatha oder Schädelstätte trägt, einer grausigen Wüste, die seit<br />

Jahrhunderten schrecklichen Hinrichtungen dienen muß. Der öde Berg trägt keine<br />

Bäume; nur Galgen entsteigen ihm. Dort hatte Alexander Jannäus, der König der<br />

Juden, mit seinem ganzen Harem der Hinrichtung von Hunderten von Gefangenen<br />

beigewohnt; dort hatte Varus zweitausend Rebellen kreuzigen lassen; dort sollte der<br />

von den Propheten verkündigte sanfte Messias die grauenvolle Marter durchmachen,<br />

welche der unerbittliche Genius der Phönizier ausgedacht und das harte Gesetz Roms<br />

angenommen hatte. <strong>Die</strong> Kohorte der Legionäre hat einen <strong>großen</strong> Kreis um den Hügel<br />

gezogen; sie verjagt mit Lanzenhieben die letzten Getreuen, die dem Verurteilten<br />

gefolgt sind. Es sind die galiläischen Frauen; stumm und verzweifelt werfen sie sich<br />

nieder, mit dem Antlitz die Erde berührend. <strong>Die</strong> letzte Stunde ist für Jesus<br />

gekommen. Der Verteidiger der Armen, der Schwachen und der Bedrängten muß sich<br />

auf das Kreuz nageln lassen, der Gottessohn muß den in der Verklärung geschauten<br />

Kelch trinken; er muß hinuntersteigen bis in den Abgrund der Hölle und der irdischen<br />

Qual. – Jesus hat den traditionellen Trank verweigert, der von den frommen Frauen<br />

Jerusalems bereitet wird und die Hingerichteten betäuben soll. Mit vollem<br />

Bewußtsein will er den Todeskampf bestehen. Während man ihn auf den<br />

schmachvollen Pfahl bindet, während die Soldaten mit starken Hammerschlägen die<br />

Nägel hineintreiben in seine von den Unglücklichen angebeteten Füße, in jene Hände,<br />

die nur zu segnen verstanden, erlöschen seine Augen, erstickt seine Stimme in der<br />

Qual des bohrenden Schmerzes. Aber mitten in den Zuckungen des Leibes und der<br />

höllischen Finsternis hat das immer wache Bewußtsein des Heilandes nur ein Wort<br />

für seine Henker: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«<br />

Noch muß er die Neige des Kelches leeren: es folgen die Stunden der Agonie, von<br />

Mittag bis zum Sonnenuntergang. <strong>Die</strong> moralische Tortur tritt hinzu und übersteigt die<br />

physische. Der Eingeweihte hat seiner Macht entsagt; der Gottessohn steht vor dem<br />

Entschwinden; es bleibt nur der leidende Mensch. Auf einige Stunden wird er seinen<br />

Himmel verlieren, um den Abgrund des menschlichen Leides zu durchmessen.<br />

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