Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
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<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />
<strong>Die</strong> Einweihung Platos und die platonische Philosophie<br />
Drei Jahre, nachdem Plato der Jünger des Sokrates geworden war, wurde dieser<br />
durch den Areopag zum Tod verurteilt und starb, von seinen Jüngern umringt, indem<br />
er den Schierlingsbecher trank.<br />
Wenige historische Ereignisse sind so oft wiedererzählt worden wie dieses. Von<br />
wenigen jedoch sind die Ursachen und die Tragweite so schlecht verstanden worden.<br />
Es ist heute üblich, zu sagen, daß der Areopag von seinem Standpunkt aus recht hatte,<br />
Sokrates als Feind der Staatsreligion zu verdammen, weil er, indem er die Götter<br />
verneinte, die Grundlagen der athenischen Republik erschütterte. Wir werden<br />
sogleich zeigen, daß diese Behauptung zwei tiefe Irrtümer enthält. Erinnern wir uns<br />
zunächst an das, was Viktor Cousin in seiner Vorrede zur Apologie des Sokrates, in<br />
seiner schönen Übersetzung der Werke des Sokrates, zu schreiben gewagt hat:<br />
»Anytus, man muß es sagen, war ein schätzenswerter Bürger; der Areopag ein<br />
gerechter und maßvoller Gerichtshof; wenn man über etwas sich verwundern sollte,<br />
so wäre es, daß Sokrates so spät beschuldigt und nicht mit stärkerer Majorität<br />
verurteilt worden ist.« Der Philosoph und Minister des öffentlichen Unterrichts hat<br />
nicht gesehen, daß, wenn er recht hätte, man zugleich Philosophie und Religion<br />
verdammen müßte, um allein die Politik der Lüge, der Gewalt und der Willkür zu<br />
verherrlichen. Denn wenn die Philosophie notwendigerweise die Basis des<br />
gesellschaftlichen Baues zerstört, ist sie nichts als ein prunkender Wahn; und wenn<br />
die Religion nur bestehen kann, indem sie das Suchen nach Wahrheit unterdrückt, ist<br />
sie nichts als eine verhängnisvolle Tyrannei. Versuchen wir, gerechter zu sein sowohl<br />
gegenüber der griechischen Religion als auch der Philosophie.<br />
Es gibt eine hervorragende und bedeutungsvolle Tatsache, die der Mehrzahl der<br />
modernen Geschichtsschreiber und Philosophen entgangen ist. In Griechenland<br />
gingen die sehr seltenen Verfolgungen der Philosophen niemals von den Tempeln<br />
aus, sondern immer von den Politikern. <strong>Die</strong> hellenische Zivilisation hat den Krieg<br />
zwischen den Priestern und Philosophen nicht gekannt, der eine so große Rolle spielt<br />
in der unsern seit der Zerstörung des christlichen Esoterismus im zweiten Jahrhundert<br />
unserer Ära.: Thales konnte ruhig lehren, daß die Welt vom Wasser stamme;<br />
Heraklites, daß sie vom Feuer komme; Anaxagoras, daß die Sonne eine<br />
weißglühende Masse von Feuer sei; Demokritos konnte behaupten, daß alles durch<br />
die Atome geschehe. Kein Tempel stieß sich daran. In den Tempeln wußte man alles<br />
dies und noch viel mehr. Man wußte auch, daß die sogenannten Philosophen, welche<br />
die Götter leugneten, sie im nationalen Bewußtsein nicht zerstören konnten und daß<br />
die wirklichen Philosophen an sie glaubten in der Art der <strong>Eingeweihten</strong> und in ihnen<br />
die Symbole großer Kategorien der spirituellen Hierarchie sahen, des Göttlichen, das<br />
die Natur durchdringt, des Unsichtbaren, welches das Sichtbare beherrscht. <strong>Die</strong><br />
esoterische Lehre dient also als Bindeglied zwischen der wahren Philosophie und der<br />
wahren Religion. Das ist die tiefe, ursprüngliche und endgültige Tatsache, welche das<br />
geheime Bündnis beider in der hellenischen Zivilisation erklärt.<br />
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