Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />
Ein anderer streifte ihn im Vorbeigehen und flüsterte ihm diese Worte ins Ohr:<br />
»Schatten, du wirst die Beute des Schattens sein; du, der du aus der Nacht kommst,<br />
kehre in den Erebus zurück!« Und eilends lief er davon. Der Schüler von Delphi<br />
wurde kalt vor Schrecken. Flüsternd sprach er zu seinem Führer: »Was bedeutet<br />
dies?« Der <strong>Die</strong>ner des Tempels schien nichts gehört zu haben. Er sagte nur: »Man<br />
muß über die Brücke schreiten. Keiner umgeht das Ziel.«<br />
Sie schritten über eine hölzerne Brücke, die über den Peneus geworfen war.<br />
»Von wo kommen«, sagte der Neophyt, »diese klagenden Stimmen und diese<br />
traurige Melodie? Wer sind diese weißen Schatten, die in langen Reihen unter den<br />
Pappeln wandeln?«<br />
»Es sind Frauen, die in die Mysterien des Dionysos eingeweiht werden sollen.«<br />
»Kennst du ihre Namen?«<br />
»Hier kennt niemand den Namen des andern, und jeder vergißt den seinen. Denn,<br />
so wie beim Eintritt in das geweihte Gebiet die Mysten ihre beschmutzten Gewänder<br />
ablegen, um sich im Fluß zu baden und reine leinene Gewänder anzuziehen, so legt<br />
jeder seinen Namen ab, um einen andern anzunehmen. Wahrend sieben Tagen und<br />
sieben Nächten wandelt man sich um, tritt in ein anderes Leben ein. Blick auf all<br />
diese Prozessionen von Frauen. Sie sind nicht nach ihren Familien oder ihrem<br />
Vaterland gruppiert, sondern nach dem Gott, der sie inspiriert.«<br />
Sie sahen junge Mädchen vorbeiziehen, bekränzt mit Narzissen, in himmelblauem<br />
Peplos; der Führer nannte sie die Nymphen, Gefährtinnen der Persephone. Keusch<br />
umschlungen trugen sie in ihren Armen Kisten, Urnen, Votivvasen. Dann kamen in<br />
rotem Peplos die mystischen Liebenden, die feurigen Gattinnen und die suchenden<br />
Jüngerinnen der Aphrodite. Sie gingen in einen dunklen Wald. Von dort hörte man<br />
wilde Rufe, begleitet von mattem Schluchzen. Sie beruhigten sich allmählich. Dann<br />
stieg ein leidenschaftlicher Chorgesang aus dem dunklen Myrtenhain empor; er stieg<br />
gen Himmel, langsam und abgebrochen: »Eros! Du hast uns verwundet! Aphrodite!<br />
Du hast unsere Glieder gebrochen. Wir haben unsern Busen mit dem Fell des Rehes<br />
bedeckt, aber wir tragen in unserer Brust den blutigen Purpur unserer Wunden. Unser<br />
Herz ist verzehrende Glut. Andere sterben vor Armut; uns zehrt die Liebe auf.<br />
Verschlinge uns, Eros! Eros! Oder befreie uns, Dionysos! Dionysos!«<br />
Ein anderer Zug trat hervor. <strong>Die</strong>se Frauen waren ganz in schwarze Wolle<br />
gekleidet, sie trugen lange schleppende Schleier, und alle waren von tiefer Trauer<br />
niedergebeugt. Der Führer nannte sie die Leidtragenden der Persephone. An diesem<br />
Ort befand sich ein großes, efeubedecktes marmornes Mausoleum. Dort knieten sie<br />
nieder, lösten ihre Haare und stießen Klagerufe aus. <strong>Die</strong> Strophe des Wunsches<br />
beantworteten sie mit der Gegenstrophe des Schmerzes. »Persephone«, sagten sie,<br />
»du bist gestorben, entführt von Aidonai; du bist hinuntergestiegen in das Reich der<br />
Toten. Wir aber, die den Geliebten beweinen, wir sind die lebendigen Toten. Möge<br />
der Tag nicht wiederkehren! Möge die Erde, die dich bedeckt, o große Göttin, uns<br />
den ewigen Schlaf geben, und möge mein Schatten wandern, umschlungen von dem<br />
geliebten Schatten! Erhöre uns, Persephone! Persephone!«<br />
135