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Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten

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<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />

»<strong>Die</strong>s ist das magische Zeichen des Lebens und der Unsterblichkeit«, sagte die<br />

himmlische Stimme. »<strong>Die</strong> Menschen haben es einst besessen; sie haben es verloren.<br />

Willst du es ihnen wiedergeben?« – »Ich will es«, sagte Jesus. – »Dann sieh her, dies<br />

ist dein Schicksal.«<br />

Jählings verlöschten die vier Sterne. Es wurde Nacht. Ein unterirdischer Donner<br />

ließ die Berge erzittern, und aus der Tiefe des Toten Meeres stieg ein dunkler Berg,<br />

überragt von einem schwarzen Kreuz. Ein mit dem Tode ringender Mensch war daran<br />

angenagelt. Eine dämonische Volksmenge bedeckte den Berg und heulte mit<br />

höllischem Hohngelächter: »Bist du der Messias, so rette dich!« – Der Seher öffnete<br />

die Augen weit, dann fiel er jäh zurück, kalter Schweiß rieselte von ihm nieder, denn<br />

dieser gekreuzigte Mann war er selbst ... Er hatte verstanden. Um zu siegen, mußte er<br />

eins werden mit diesem schrecklichen Doppelwesen, das er beschworen und wie ein<br />

unheilvolles Fragezeichen vor sich hingestellt hatte. Schwebend in seiner<br />

Ungewißheit wie in der Leere des unendlichen Raumes, fühlte Jesus zugleich die<br />

Folter des Gekreuzigten, die Schmähungen der Menschen und das tiefe Schweigen<br />

des Himmels. »Du kannst es ergreifen oder zurückstoßen«, sagte die himmlische<br />

Stimme. Schon zitterte die Erscheinung stellenweise, und das gespenstische Kreuz<br />

mit dem Gekreuzigten begann zu verblassen, als plötzlich Jesus neben sich alle<br />

Kranken des Brunnens von Siloe wieder erblickte, hinter ihnen einen langen Zug von<br />

verzweifelten Seelen, die alle mit gefalteten Händen murmelten: »Ohne dich sind wir<br />

verloren. Rette uns, du, der du zu lieben verstehst!« Da richtete sich der Galiläer<br />

langsam auf, und voll Liebe seine Arme öffnend, rief er aus: »Mir das Kreuz! Und<br />

möge die Welt gerettet sein!« Alsbald fühlte Jesus einen <strong>großen</strong> Riß in all seinen<br />

Gliedern und stieß einen furchtbaren Schrei aus ... Zugleich stürzte der schwarze<br />

Berg ein, das Kreuz versank; ein mildes Licht, eine göttliche Seligkeit strömten durch<br />

den Seher, und in den blauen Himmelshöhen zog eine triumphierende Stimme durch<br />

die Unendlichkeit, rufend: »Satan ist nicht mehr Herr! Der Tod ist überwunden! Ehre<br />

dem Menschensohn! Ehre dem Gottessohn!«<br />

Als Jesus erwachte, war er nicht mehr derselbe. Ein entscheidender Vorgang war<br />

in der unergründlichen Tiefe seines Bewußtseins vor sich gegangen. Er hatte das<br />

Rätsel seines Lebens gelöst, er hatte den Frieden erlangt, eine große Sicherheit hatte<br />

sich seiner bemächtigt. Aus dem Bruch seines irdischen Wesens, das er mit Füßen<br />

getreten und in den Abgrund geworfen hatte, war ein neues, strahlendes Bewußtsein<br />

hervorgegangen.<br />

Bald danach stieg er hinunter ins Dorf der Essäer. Er erfuhr, daß Johannes der<br />

Täufer eben von Antipas ergriffen und in der Festung von Makeru eingekerkert<br />

worden war. Statt über dieses Vorzeichen zu erschrecken, sah er darin ein Zeichen,<br />

daß die Zeiten reif seien, um zu handeln. Er verkündete also den Essäern, daß er in<br />

Galiläa »das Reich der Himmel« predigen würde. Aus der Tiefe des Todes, den er im<br />

voraus erforscht und gekostet hatte, wollte er seinen Brüdern die Hoffnung und das<br />

Leben bringen.<br />

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