Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
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<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />
Seine Volksunterweisung ist in diesem Wort enthalten: »Das Himmelreich ist in<br />
euch.« Jetzt, da er ihnen die nötigen Mittel angibt, um dieses unerhörte Glück zu<br />
erlangen, staunen sie nicht mehr über die ungewöhnlichen Dinge, die er von ihnen<br />
verlangt: selbst den leisesten Wunsch nach dem Bösen auszurotten, die<br />
Beleidigungen zu vergeben, die Feinde zu lieben. So machtvoll ist der Liebesstrom,<br />
von dem sein Herz überflutet, daß er sie mit sich reißt. In seiner Gegenwart scheint<br />
alles leicht. Hier liegt die ungeheure Neuheit, die erstaunliche Kühnheit dieser Lehre:<br />
der galiläische Prophet stellt das innere Leben der Seele höher als alle äußeren<br />
Übungen, er erhebt das Unsichtbare über das Sichtbare, das Reich der Himmel über<br />
die Güter der Erde. Er befiehlt zu wählen zwischen Gott und dem Mammon. Seine<br />
Lehre kurz zusammenfassend sagt er: »Liebet eure Nächsten wie euch selbst und seid<br />
vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.« So ließ er durch eine<br />
populäre Form die ganze Tiefe der Sittlichkeit und der Erkenntnis durchscheinen.<br />
Denn das höchste Gebot der Einweihung ist, die göttliche Vollkommenheit in der<br />
Vollkommenheit der Seele widerzuspiegeln; und das Geheimnis der Erkenntnis ruht<br />
in der Kette der Analogien und der Zusammenhänge, durch die in immer mehr sich<br />
weitenden Kreisen das Besondere mit dem Universellen, das Endliche mit dem<br />
Unendlichen vereinigt wird.<br />
War dies die öffentliche und rein sittliche Lehre Jesu, so ist es klar, daß er<br />
daneben seinen Jüngern eine innere Lehre gab, eine Lehre, die parallel neben der<br />
anderen herging, sie begründete, ihre Triebfedern aufdeckte und in die Tiefen der<br />
spirituellen Wahrheiten drang. Hier ist ein Beispiel zu einem der wesentlichen Punkte<br />
dieser Lehre:<br />
Jesus hält sich vorübergehend in Jerusalem auf. Er predigt noch nicht im Tempel,<br />
aber er heilt die Kranken und lehrt bei Freunden. <strong>Die</strong> Werke der Liebe müssen den<br />
Boden bereiten, in welchen die gute Saat fallen soll. Nikodemus, ein gelehrter<br />
Pharisäer, hatte von dem neuen Propheten sprechen hören. Voll Neugierde, aber nicht<br />
willig, sich vor den Seinen zu kompromittieren, bittet er um eine geheime<br />
Unterredung mit dem Galiläer. Jesus bewilligt sie. Nikodemus kommt des Nachts in<br />
seine Wohnung und sagt: »Meister! Wir wissen, daß du ein von Gott gesandter<br />
Lehrer bist; denn niemand könnte die Wunder tun, die du tust, wenn Gott nicht mit<br />
ihm wäre.« Jesus antwortet: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, daß ein<br />
Mensch von neuem geboren werde, kann er nicht das Reich Gottes schauen.«<br />
Nikodemus fragt, ob es möglich sei, daß ein Mann in den Schoß seiner Mutter<br />
zurückkehre und ein zweites Mal geboren werde. Jesus antwortet: »Wahrlich, ich<br />
sage dir, wenn ein Mann nicht aus Wasser und Feuer geboren wird, kann er nicht in<br />
das Reich Gottes eintreten 83 .»<br />
<strong>Die</strong> Wiedergeburt durch den Geist (oder die Taufe mit dem himmlischen Feuer)<br />
bedeutet die Aneignung dieser Wahrheit durch den Willen, so daß sie das Blut und<br />
das Leben, die Seele aller Handlungen wird. Das Ergebnis ist der absolute Sieg des<br />
Geistes über die Materie, die absolute Herrschaft der durchgeistigten Seele über den<br />
in ein gehorsames Werkzeug verwandelten Körper; einer Herrschaft, die seine<br />
schlummernden Fähigkeiten erweckt, seine inneren Sinne eröffnet, ihm die intuitive<br />
Kenntnis der Wahrheit und die unmittelbare Einwirkung von Seele zu Seele gibt.<br />
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