06.11.2013 Aufrufe

Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten

Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten

Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />

<strong>Die</strong> einen, von Reue ergriffen, richteten einen finstern Blick zur Erde, die andern<br />

hörten entzückt zu. Und die gerührten Thrakier murmelten untereinander: »Ein Gott<br />

spricht zu uns, Apollo selbst bezaubert die Bacchantinnen!«<br />

In der Tiefe des Waldes jedoch lauerte Aglaonike. Als die Hohepriesterin Hekates<br />

die Thrakier unbeweglich sah und die Bacchantinnen wie gebannt durch eine Magie,<br />

die stärker war als die ihre, fühlte sie beim Wort des göttlichen Zauberers den Sieg<br />

des Himmels über die Hölle und den Absturz ihrer fluchbeladenen Macht in die<br />

Finsternis zurück, aus der sie gekommen war. Sie stieß ein Wutgeheul aus und warf<br />

sich mit heftiger Gebärde vor Orpheus:<br />

»Ein Gott, sagt ihr? Und ich sage euch, daß es Orpheus ist, ein Mann wie ihr, ein<br />

Magier, der euch betrügt, ein Tyrann, der eure Kronen an sich reißen will. Ein Gott,<br />

sagt ihr? Der Sohn des Apollo? Er? Der Priester? Der hochmütige Pontifex? Werft<br />

euch auf ihn! Wenn er ein Gott ist, so möge er sich verteidigen ... und wenn ich lüge,<br />

so mögt ihr mich zerreißen!«<br />

Aglaonike war von einigen Führern gefolgt, die durch ihre Zauberkünste<br />

angefacht und von ihrem Haß entflammt waren. Sie stürzten sich auf den<br />

Hierophanten. Orpheus stieß einen <strong>großen</strong> Schrei aus und fiel, durchbohrt von ihren<br />

Schwertern. Er reichte seinem Schüler die Hand und sagte:<br />

»Ich sterbe; aber die Götter sind lebendig!«<br />

Dann verschied er. Über seine Leiche gebeugt, lauerte die Magierin von<br />

Thessalien, deren Gesicht jetzt demjenigen der Tisiphone glich, mit wilder Freude auf<br />

den letzten Atemzug des Propheten und bereitete sich vor, aus ihrem Opfer ein<br />

Orakel zu holen. Wie groß war aber das Entsetzen der Thessalierin, als sie beim<br />

zitternden Schein ihrer Fackel sah, wie dies leichenfahle Haupt sich belebte, wie eine<br />

bleiche Röte sich über das Antlitz des Toten ergoß, wie seine Augen sich weit<br />

öffneten und ein tiefer, sanfter und schrecklicher Blick sich auf sie richtete ...<br />

während eine sonderbare Stimme – die Stimme des Orpheus – noch einmal sich<br />

diesen zitternden Lippen entrang, um deutlich diese vier melodischen und rächenden<br />

Silben auszusprechen:<br />

»Eurydike!«<br />

Vor diesem Blick, dieser Stimme prallte die entsetzte Priesterin zurück mit einem<br />

Schrei: »Er ist nicht tot! Sie werden mich verfolgen! Immer! Orpheus ... Eurydike!«<br />

Indem sie diese Worte ausstieß, verschwand Aglaonike wie von hundert Furien<br />

gepeitscht. <strong>Die</strong> erschreckten Bacchantinnen und die von Grauen über ihre<br />

verbrecherische Tat erfaßten Thrakier flüchteten in die Nacht hinaus, Wehrufe<br />

ausstoßend.<br />

Der Schüler blieb allein neben der Leiche seines Meisters. Als ein fahler Strahl<br />

Hekates das blutige Linnen und das blasse Antlitz des <strong>großen</strong> Initiators beleuchtete,<br />

schien es ihm, als ob das Tal, der Fluß, die Berge und die tiefen Wälder seufzten wie<br />

eine große Lyra.<br />

148

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!