Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />
Seit den ältesten Zeiten weissagten hellsehende Frauen unter den Bäumen. Jeder<br />
Volksstamm hatte seine große Prophetin, wie die Voluspa der Skandinavier, mit ihrer<br />
Schule von Priesterinnen. Doch wurden diese Frauen, aus denen zuerst edle<br />
Inspiration sprach, ehrgeizig und grausam. <strong>Die</strong> guten Prophetinnen wurden böse<br />
Zauberinnen. Sie führten die Sitte der Menschenopfer ein, und das Blut der Herolle<br />
floß ohne Unterlaß auf den Dolmen beim unheimlichen Gesang der Priester, beim<br />
Zuruf der blutdürstigen Skythen.<br />
Unter diesen Priestern befand sich ein junger Mann in der Blüte der Jahre mit<br />
Namen Ram, der sich auch dem geistlichen Stande widmete, aber dessen in sich<br />
gekehrte Seele und dessen tiefer Geist sich gegen diesen blutigen Kultus empörten.<br />
Er hatte von früh auf eine seltene Befähigung gezeigt in der Kenntnis der<br />
Pflanzen, ihrer wunderbaren Eigenschaften, der von ihnen gewonnenen und<br />
zubereiteten Säfte, ebenso wie in dem Studium der Sterne und ihrer Einflüsse. Er<br />
schien die entfernten Dinge zu raten und zu schauen. Daher seine frühe Autorität<br />
über die ältesten Druiden. Eine wohlwollende Größe entströmte seinen Worten,<br />
seinem Wesen. Seine Weisheit kontrastierte mit der Wildheit der Druidinnen, dieser<br />
Verkünderinnen von Verwünschungen, die in verzückter Raserei unheilvolle Orakel<br />
ausstießen. Von den Druiden wurde er genannt »derjenige, welcher weiß«, das Volk<br />
nannte ihn »den Friedensverkünder«.<br />
Ram, nach göttlicher Wissenschaft strebend, war durch ganz Skythien und durch<br />
die Länder des Südens gereist. Angezogen durch sein persönliches Wissen und seine<br />
Bescheidenheit, hatten ihm die Priester der Schwarzen einen Teil ihrer geheimen<br />
Kenntnisse enthüllt. In den Norden zurückgekehrt, erschrak Ram, als er den Kultus<br />
der Menschenopfer immer mehr unter den Seinen wüten sah. Er erblickte hierin das<br />
Verderben seiner Rasse. Wie aber diese Sitte bekämpfen, die durch den Hochmut der<br />
Priesterinnen, den Ehrgeiz der Druiden und durch den Aberglauben des Volkes<br />
verbreitet worden war? Da fiel eine andere Geißel über die Weißen, und Ram glaubte<br />
darin eine Strafe des Himmels für den frevelhaften Kultus zu sehen. Von ihren<br />
Streifzügen in die südlichen Gegenden und von ihrer Berührung mit den Schwarzen<br />
hatten die Weißen eine schreckliche Krankheit heimgebracht, eine Art Pest. Sie<br />
verseuchte den Menschen vom Blut, von den Quellen des Lebens aus. Der ganze<br />
Körper bedeckte sich mit schwarzen Flecken, der Atem war verpestet, die<br />
geschwollenen und von Geschwüren zerfressenen Glieder verloren ihre Gestalt, und<br />
der Kranke starb unter schrecklichen Qualen. Der Atem der Lebenden und der<br />
Geruch der Toten verbreiteten die Geißel. Zu Tausenden fielen und röchelten die<br />
entsetzten Weißen in ihren selbst von den Raubvögeln verlassenen Wäldern.<br />
Bekümmert suchte Ram umsonst nach einem Heilmittel.<br />
Er hatte die Gewohnheit, unter einer Eiche in einer Waldlichtung zu meditieren.<br />
Eines Abends, nachdem er lange über die Leiden seiner Rasse nachgedacht hatte,<br />
schlief er am Fuß des Baumes ein. In seinem Schlaf schien es ihm, als ob eine<br />
gewaltige Stimme ihn beim Namen riefe, und er glaubte zu erwachen. Da sah er vor<br />
sich einen Mann von majestätischem Wuchs, bekleidet wie er mit dem weißen<br />
Gewand der Druiden. Der hielt einen Stab, um welchen eine Schlange geschlungen<br />
war. Erstaunt wollte Ram den Unbekannten fragen, was dies bedeute.<br />
24