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Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten

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<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />

»Ja, bei Mahadeva«, sagte Krishna, vom Wagen steigend und über den Stamm<br />

springend, »ich will denjenigen sehen, vor dem du so erzitterst.«<br />

Der hundertjährige Muni Vasishta lebte seit einem Jahr in dieser Hütte, die im<br />

Innersten des heiligen Waldes verborgen war, den Tod erwartend. Noch vor dem Tod<br />

des Körpers war er vom Gefängnis des Körpers befreit. Seine Augen waren<br />

erloschen, aber er sah mit der Seele. Seine Haut empfand kaum die Hitze und die<br />

Kälte, aber sein Geist lebte in vollkommener Einheit mit dem höchsten Geist. Er sah<br />

die Dinge dieser Welt nur noch durch das Licht Brahmas, immer betend, meditierend.<br />

Ein treuer Jünger aus der Einsiedelei brachte ihm jeden Tag die Reiskörner, von<br />

denen er lebte. <strong>Die</strong> Gazelle, die in seiner Hand graste, kündigte ihm durch ihr Röhren<br />

an, wann sich Raubtiere näherten. Dann entfernte er sie, indem er ein Mantram<br />

murmelte und seinen siebenknotigen Bambusstock ausstreckte. <strong>Die</strong> Menschen aber,<br />

wer sie auch seien, sah er mit dem innern Blick, mehrere Meilen weit,<br />

herbeikommen.<br />

Krishna, im dunklen Gang schreitend, stand plötzlich Vasishta gegenüber. Der<br />

König der Anachoreten saß mit gekreuzten Beinen auf einer Matte, angelehnt an den<br />

Pfosten seiner Hütte, in tiefem Frieden. In seinen blinden Augen strahlte das<br />

Leuchten des Sehers. Kaum hatte ihn Krishna erblickt, als er den »erhabenen Greis«<br />

erkannte! – Freude erschütterte ihn, die Ehrfurcht beugte seine Seele. Vergessend den<br />

König, seinen Wagen und sein Reich, beugte er ein Knie vor dem Heiligen – und<br />

betete ihn an.<br />

Vasishta schien ihn zu sehen. Denn sein an die Hütte gelehnter Körper richtete<br />

sich durch leise Schwingungen auf; er streckte beide Arme aus, um seinen Gast zu<br />

segnen, und seine Lippen murmelten die heilige Silbe: Aum. 15<br />

Der König Kansa jedoch, als er keinen Schrei hörte und seinen Führer nicht<br />

zurückkommen sah, schlich leisen Schrittes in den Laubgang und blieb vor Erstaunen<br />

versteinert, als er Krishna kniend vor dem heiligen Anachoreten erblickte. <strong>Die</strong>ser<br />

richtete auf Kansa seine blinden Augen, und seinen Stock erhebend, sagte er:<br />

»O König von Madura, du kommst mich zu töten; Heil! Denn du wirst mich<br />

befreien von dem Elend dieses Körpers. Du willst wissen, wo der Sohn deiner<br />

Schwester Devaki ist, der dich entthronen soll? Hier ist er, gebeugt vor mir und vor<br />

Mahadeva, und es ist Krishna, dein eigner Wagenlenker. Bedenke, wie töricht und<br />

fluchbeladen du bist, da dieser eben dein furchtbarster Feind ist. Du hast ihn mir<br />

zugeführt, damit ich ihm sage, daß er das auserwählte Kind ist. Zittre! Du bist<br />

verloren, denn deine höllische Seele wird die Beute der Dämonen sein.«<br />

Kansa, erstarrt, hörte zu. Er wagte nicht, den Greis anzusehen; bleich vor Wut,<br />

immer noch den knienden Krishna vor Augen, nahm er seinen Bogen, spannte ihn<br />

mit seiner ganzen Kraft und schnellte einen Pfeil gegen den Sohn Devakis. Aber der<br />

Arm hatte gezittert, der Pfeil hatte gefehlt und bohrte sich in die Brust Vasishtas, der<br />

mit gekreuzten Armen, wie in Ekstase, ihn zu erwarten schien.<br />

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