Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
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<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />
So starb dieser große Weise, dieser göttliche Mann, der versucht hatte, die<br />
Weisheit in die Regierung der Menschen überfließen zu lassen. Der Mord des<br />
Pythagoras wurde zum Zeichen einer demokratischen Revolution in Krotona und am<br />
Golf von Tarent. <strong>Die</strong> Städte Italiens verjagten die unglücklichen Schüler des<br />
Meisters. Der Orden wurde auseinandergesprengt, aber seine Überreste verstreuten<br />
sich in Sizilien und in Griechenland, überall das Wort des Meisters säend. Lysis<br />
wurde der Lehrer des Epaminondas. Nach neuen Revolutionen konnten die<br />
Pythagoräer nach Italien zurückkehren unter der Bedingung, daß sie nicht mehr eine<br />
politische Körperschaft bilden wollten. Eine rührende Bruderliebe war ihnen immer<br />
eigen; sie betrachteten sich als ein und dieselbe Familie. Einer von ihnen, ins Elend<br />
gekommen und von Krankheit befallen, wurde von den Wirten einer Herberge<br />
aufgenommen. Bevor er starb, zeichnete er auf die Tür des Hauses einige<br />
geheimnisvolle Zeichen und sagte zu seinem Gastwirt: »Seid ruhig, einer meiner<br />
Brüder wird meine Schuld bezahlen.« Ein Jahr später sah ein Fremder, der in dieselbe<br />
Herberge einkehrte, diese Zeichen und sagte zum Wirt: »Ich bin Pythagoräer; einer<br />
meiner Brüder ist hier gestorben; sagt mir, wieviel ich euch für ihn schulde.« Der<br />
Orden bestand zweihundertfünfzig Jahre; die Ideen jedoch, die Traditionen des<br />
Meisters leben bis heute.<br />
Noch ein Wort über den Einfluß des Meisters auf die Philosophie. Vor ihm hatte<br />
es auf der einen Seite Physiker gegeben, auf der andern Moralisten; Pythagoras<br />
umschloß die Moral, die Wissenschaft und die Religion in seiner umfassenden<br />
Synthese. <strong>Die</strong>se Synthese ist nichts anderes als die esoterische Lehre, deren volles<br />
Licht wir zu finden versucht haben auf dem Grund selbst der pythagoräischen<br />
Einweihung. Der Philosoph von Krotona war nicht der Erfinder, sondern der<br />
lichtvolle Ordner dieser ursprünglichen Wahrheiten im Sinne der Wissenschaft. Wir<br />
haben also sein System gewählt als den günstigsten Rahmen für einen vollständigen<br />
Grundriß der Mysterienlehre und der wahren Theosophie.<br />
<strong>Die</strong>jenigen, die dem Meister mit uns gefolgt sind, werden verstanden haben, daß<br />
im Innern dieser Lehre die Sonne der Einen Wahrheit erstrahlt. Man findet verstreute<br />
Strahlen davon in den Philosophien und in den Religionen, aber ihr Zentrum ist dort.<br />
Was soll man tun, um den Weg dorthin zu finden? <strong>Die</strong> Beobachtung und das<br />
Verstandesurteil genügen nicht. Vor allem gehört dazu die Intuition. Pythagoras war<br />
ein Adept, ein Eingeweihter ersten Ranges. Er besaß das direkte Schauen des Geistes,<br />
den Schlüssel zu den okkulten Wissenschaften und zur geistigen Welt. Er schöpfte<br />
also an der ersten Quelle der Wahrheit. Und da er mit diesen transzendenten<br />
Fähigkeiten der intellektuellen und durchgeistigten Seele noch die genaue<br />
Beobachtung der physischen Natur und die meisterhafte Klassifikation der Ideen in<br />
seiner hohen Vernunft vereinigte, so war niemand besser geeignet als er, das Gebäude<br />
der Wissenschaft vom Kosmos zu errichten.<br />
<strong>Die</strong>ses Gebäude wurde in Wahrheit niemals zerstört. Plato, der seine ganze<br />
Metaphysik Pythagoras entnahm, hatte eine vollständige Idee davon, obgleich er sie<br />
mit weniger Strenge und Genauigkeit wiedergegeben hat. Aber keine Philosophie hat<br />
je die Gesamtheit dieses Gebäudes umfaßt. Hier sollte diese Gesamtheit in ihrer<br />
Harmonie und ihrer Einheit wiederzufinden versucht werden.<br />
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