Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
Edouard Schuré - Die großen Eingeweihten
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<strong>Edouard</strong> <strong>Schuré</strong> <strong>Die</strong> <strong>großen</strong> <strong>Eingeweihten</strong> Geheimlehren der Religionen<br />
Wir finden in Apollo das Sonnenwort, das universelle Wort, den <strong>großen</strong> Mittler,<br />
den Vishnu der Inder, den Mithras der Perser, den Horus der Ägypter. Aber die alten<br />
Ideen des asiatischen Esoterismus umkleideten sich in der Legende Apollos mit<br />
plastischer Schönheit, mit Herrlichkeit, die sie tiefer in das menschliche Bewußtsein<br />
eindringen ließen, ähnlich den Pfeilen des Gottes, »den Schlangen mit den weißen<br />
Flügeln, die von seinem goldenen Bogen emporschnellen«, sagt Äschylos.<br />
Apollo entsteigt der <strong>großen</strong> Nacht in Delos; alle Göttinnen grüßen ihn bei seiner<br />
Geburt; er schreitet vor, er ergreift den Bogen und die Lyra; seine Locken rollen in<br />
der Luft, sein Köcher klingt auf seinen Schultern; und das Meer erzittert, und die<br />
ganze Insel erglänzt wie in einem Bad von Flammen und von Gold. Es ist die<br />
Epiphanie des göttlichen Lichts, das durch seine erhabene Gegenwart die Ordnung,<br />
die Herrlichkeit und die Harmonie erschafft, deren wunderbares Echo die Poesie ist. –<br />
Der Gott begibt sich nach Delphi und durchbohrt mit seinen Pfeilen eine ungeheure<br />
Schlange, welche die Gegend verwüstet; er hebt den Wohlstand des Landes und<br />
gründet den Tempel. Es ist ein Bild des Sieges dieses göttlichen Lichts über die<br />
Finsternis und das Böse. In den alten Religionen symbolisierte die Schlange zugleich<br />
den unabwendbaren Kreis des Lebens und das Böse, das sein Resultat ist. Dennoch<br />
entringt sich diesem verstandenen und überwundenen Leben das Wissen. Als Töter<br />
der Schlange ist Apollo das Symbol des <strong>Eingeweihten</strong>, der die Natur durch die<br />
Wissenschaft durchbohrt, sie durch den Willen bändigt und, indem er den<br />
verhängnisvollen Ring des Fleisches durchbricht, in die Herrlichkeit des Geistes<br />
emporsteigt, während die zerbrochenen Reste der menschlichen Tierheit sich im<br />
Sande winden. Deshalb ist Apollo der Meister der Büßungen, der Läuterungen der<br />
Seele und des Körpers. Bespritzt vom Blut des Ungeheuers, hat er Buße getan, hat er<br />
sich selbst während acht Jahren in der Verbannung geläutert unter den bittern und<br />
heilsamen Lorbeeren von Tempe. – Apollo, der Erzieher der Menschen, liebt es, unter<br />
ihnen zu weilen; er gefällt sich in den Städten, zwischen der männlichen Jugend, in<br />
den Weltkämpfen der Poesie und der Palästra, aber er bleibt dort nur zeitweilig. Im<br />
Herbst kehrt er in sein Vaterland zurück, in das Land der Hyperboräer. Es ist das<br />
geheimnisvolle Land der strahlenden und durchsichtigen Seelen, die in der ewigen<br />
Morgenröte einer vollkommenen Seligkeit leben. Dort sind seine wahren Priester und<br />
seine geliebten Priesterinnen. Er lebt mit ihnen in intimer und tief er Gemeinschaft,<br />
und wenn er den Menschen ein königliches Geschenk machen will, so bringt er ihnen<br />
aus dem Land der Hyperboräer eine jener <strong>großen</strong> strahlenden Seelen und läßt sie auf<br />
der Erde geboren werden, um die Sterblichen zu belehren und zu bezaubern. Er selbst<br />
kehrt nach Delphi zurück, in jedem Frühjahr, wenn die Hymnen gesungen werden. Er<br />
kommt, sichtbar allein den <strong>Eingeweihten</strong>, in seiner hyperboräischen Weise auf einem<br />
Wagen, den melodische Schwäne ziehen. Er kommt wieder, um das Heiligtum zu<br />
bewohnen, in dem die Pythia seine Orakel verkündet, in dem die Weisen und die<br />
Dichter ihm zuhören. Dann singen die Nachtigallen, der Springbrunnen von Kastalien<br />
sprudelt in silberner Helle, Ströme blendenden Lichts und himmlische Musik<br />
ergießen sich in das Herz des Menschen und bis in die Adern der Natur.<br />
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