Evangelisch-Lutherische Seite 2 E. Felix <strong>Moser</strong> Paul-Gerhardt Gemeinde <strong>Pastor</strong> Hamburg-Winterhude Predigt am 30.07.06 Ich habe daran erhebliche Zweifel. Lassen sie mich dazu zwei Beispiele anführen, Einzelfälle sicherlich und doch halte ich sie für sypmptomatisch. Erstens: ein Kurort, Fußgängerzone am Sonntagnachmittag. Eine Patientin eines Rehazentrums einer orthopädischen Klinik ist unterwegs – sie geht an zwei Krücken. Als sie vor einem Schaufenster steht, bemerkt sie, dass der Schnürsenkel eines Schuhs sich gelöst hat. Sie darf auf keinen Fall stürzen, sieht aber keine Bank oder eine andere Möglichkeit, den Schnürsenkel zu binden. Deshalb hält sie eine andere Passantin an und bittet sie, den Schnürsenkel zuzubinden. „Ich selber kann es nicht und habe Angst zu fallen“, sagt sie. Die angesprochene lächelt sie an und erwidert: „Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber – nein, das geht nicht. Man könnte ja meinen, wir gehören zusammen“, dreht sich um und geht weiter. Zweitens: Ein <strong>Pastor</strong> aus Nordfriesland, einer ländlichen Gemeinde, erzählt aus seinem Religionsunterricht in der Realschule. Er behandelt die Bergpredigt, darunter das Jesus-Wort: „Wenn dich einer auf deine rechte Wange schlägt, so biete ihm auch die andere dar.“ Er behandelt das Thema so, dass er die rhetorische Frage stellt, wer bereit wäre, nach vorne zu kommen und ihn, den <strong>Pastor</strong> ins Gesicht zu schlagen. Gegen seine Erwartung meldet sich tatsächlich ein Schüler. Er schlägt den <strong>Pastor</strong> nicht nur auf die rechte Wange, sondern – nach Verlesung des Bibelwortes – auch auf die linke. Und das nicht nur einmal, sondern eineinhalb Minuten lang – (und wohl noch länger, hätte der <strong>Pastor</strong> dem nicht Einhalt geboten). Kein Einschreiten, nicht einmal Protest aus der Klasse, vielmehr die allgemeine Überzeugung, der <strong>Pastor</strong> habe ja selbst Schuld, habe er doch das Verhalten des Schülers selbst provoziert. Zwei aktuelle Beispiel aus jüngster Zeit (tatsächlich so geschehen, nicht konstruiert). Ich bin sicher: Sie sind über jedes einzelne ebenso entsetzt wie ich. Ich will sie nicht überbewerten, muss sie dennoch aber ernst nehmen – als Symptome einer Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit, die uns immer öfter begegnet. Lange schon reden wir nicht mehr von einer „christlichen Gesellschaft“ bei uns, aber können wir überhaupt noch von einer „christlich geprägten“ Gesellschaft reden?! Können wir überhaupt noch ein Mindestmaß an christlichen Wertvorstellungen voraussetzen? Es hilft mir, wenn ich sehe, dass Paulus seinen Brief an eine christliche Gemeinde richtet. Er sieht einen deutlichen Unterschied im Leben der Gemeinde zum Leben der römischen Gesellschaft um sie herum. Tatsächlich sind es unterschiedliche Werte, die hier und dort gelebt werden. Und wenn ich mich umschaue, muss ich sagen: Diese Unterscheidung müssen wir (so traurig es ist) wohl mittlerweile auch wieder treffen. Wir sind verständlicherweise traurig darüber, dass wir weniger werden in den christlichen Gemeinden. Aber wir müssen und dürfen auch das andere sehen: Dass es in den Gemeinden unsichtbare Netze eines gelebten Glaubens gibt, Netze, die Menschen tragen und auffangen. Dort, wo Menschen andere in stiller Selbstverständlichkeit besuchen, helfen, wo es nötig ist, miteinander sprechen, miteinander beten vielleicht. Netze in den einzelnen Gemeinden, aber auch darüber hinaus: in der Stadt beziehungsweise der Region (Diakonie), weltweit („Brot für die Welt“). Überall dort, wo Menschen der Sache Jesu treu bleiben, wo sie ihm nachfolgen, einfach indem sie den Menschen treu bleiben, für die er sein Leben eingesetzt hat. Der Sache Jesu treu zu bleiben, das kann auch heißen: sich selbst treu sein und zu dem stehen, was man als wahr und richtig erkannt hat (selbst dann – oder besser: gerade dann! – wenn um einen herum diese Werte nach und nach verloren gehen). Paulus hat hier ein besonderes Wort für diese Haltung (ein Wort, das in unserer Sprache fast in Vergessenheit geraten ist): Er spricht von „Demut“. Das Wort kommt kaum noch vor – wohl auch, weil es den Geruch von Schwäche, von Angepasstheit, von ängstlichem Wegducken enthält. Doch christliche Demut will auf gar keinen Fall, dass jemand gedemütigt wird. Gemeint ist viel mehr der Mut, sich selbst und die eigenen Ansprüche ein Stück weit zurückzunehmen, um anderen eine bessere Chance zur Entfaltung zu geben. Es ist der Mut, nicht so sehr auf sich und die eigene Kraft zu vertrauen, sondern anzuerkennen, dass ohne Gottes Beistand nichts gelingen kann. Es ist der Mut, aus freiem Antrieb und eigener Entscheidung etwas von sich selbst für andere zu opfern – Zeit, Engagement, Liebe. Kurz: Es ist der Mut, das Du größer zu schreiben als das Ich.
Evangelisch-Lutherische Seite 3 E. Felix <strong>Moser</strong> Paul-Gerhardt Gemeinde <strong>Pastor</strong> Hamburg-Winterhude Predigt am 30.07.06 Dort, wo das gelingt, dürfen wir Hoffnung haben – nicht nur für uns selbst als christliche Gemeinde, sondern auch für unser Umfeld: Dass etwas ausstrahlt vom gelebten Glauben und sich Jesu Werte so wieder durchsetzen gegen die Kälte und Unbarmherzigkeit unserer Zeit. Amen.