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Foto: Marcus Gloger<br />
Als Sammler ist Reiner Speck wie<br />
Petrarca „sein eigener Bibliothekar<br />
oder Museumswärter“: Bildnis<br />
des Hausherrn mit Hunden<br />
K<br />
eine Hausnummer, kein Namensschild an der Klingel,<br />
auch nicht am von Efeu umwucherten Briefkasten neben<br />
dem Gartentor. Offenbar ist bekannt, wer in der stillen<br />
Straße im noblen Kölner Stadtteil Lindenthal wohnt.<br />
Reiner Speck öffnet die Pforte, an der früher „Dr. Jekyll<br />
und Mr. Hyde“ zu lesen war. Das habe jedoch zu Irritationen und<br />
der Vermutung geführt, hier verberge sich ein Arzt mit obskuren<br />
Obsessionen. Speck entfernte das Schild. Das ironische Spiel mit<br />
Bezügen und Querverbindungen scheint ihm Spaß zu machen:<br />
„Proust nahm im Hotel immer das <strong>letzte</strong> Zimmer links, unser Haus<br />
ist das <strong>letzte</strong> auf der linken Seite.“ Gleich hinter der stattlichen Villa<br />
aus den zwanziger Jahren liegt der Stadtwald und beginnt die von<br />
Speck initiierte „Marcel-Proust-Promenade“, die erste nach dem<br />
Schriftsteller benannte Straße in Deutschland.<br />
Specks kokette Idolatrie für den Franzosen geht so weit, dass<br />
auf seinem Briefpapier statt der Kontonummer „Je hais les correspondances<br />
– Marcel Proust“ steht. Er hasse Briefwechsel, schrieb<br />
der Romancier im Frühjahr 1916 an seinen Freund Lucien Daudet.<br />
Ungeachtet dessen verfasste Proust manisch und atemlos Briefe,<br />
schrieb wie besessen an seiner „Recherche“. Urologe Speck, dessen<br />
Tochter Laura in der fünften Generation die medizinische Tradition<br />
der Familie fortsetzt, ist missionarischer Vorsitzender der<br />
1982 in Köln gegründeten Proust-Gesellschaft. Er produziert ebenfalls<br />
einen nicht abreißenden Strom von Rezensionen, Vorträgen,<br />
Kritiken und Essays über Kunst, Medizin, Literatur. Er hat Bücher<br />
herausgebracht wie „Proust für Gestresste“ – eine Art Hausapotheke<br />
für spezielle Seelenlagen. Seit Jahrzehnten jagt der von<br />
Joseph Beuys im „Dr. Speck Multiple“ Verewigte wie ein Süchtiger<br />
nach allem, was er über den Proust’schen Romangiganten<br />
finden kann. Der 71-Jährige beruft sich dabei auf Goethe: „Und<br />
so liebe ich den Besitz nicht der besessenen Sache, sondern meiner<br />
Bildung wegen.“<br />
Das zweite Objekt seiner Sammel- und Wissensleidenschaft<br />
ist der italienische Humanist und Dichter Francesco Petrarca, der<br />
als einer der ersten obsessiven Bibliophilen schlechthin gilt. Zwischen<br />
Proust und Petrarca liegen Welten und Jahrhunderte, aber<br />
beide „sind in ihrer Zeitzeugenschaft so genial und allumfassend,<br />
dass sie Epochen überragen und überleben“, sagt Speck. Beide<br />
seien Künstler par excellence gewesen, was die Anlage ihres Werkes,<br />
deren Formvollendung, die Selbstreflexion und ihren Ruhm<br />
betreffe. Ein auch heute noch beachtliches Werk sei beispielsweise<br />
Petrarcas „De remediis utriusque fortunae“, von den Heilmitteln<br />
gegen gutes und böses Schicksal, ein Nachschlagewerk mit Zitaten<br />
und einschlägigen Beispielen. Der Enthusiast Reiner Speck<br />
besitzt die erste deutsche Übersetzung von 1532 und freut sich<br />
über sein Beuteglück.<br />
Auf allen Reisen führt ihn der erste Weg ins Antiquariat und<br />
dann erst ins Hotel. Auch „Petrarca pflegte wie ein witternder<br />
Hund vom Weg abzuweichen, sobald er von einem Kloster und<br />
dessen Bücherschatz erfuhr“, erzählt Speck. Heute besucht er Antiquariatsmessen<br />
und ist in Fachkreisen so bekannt, dass vieles an<br />
ihn herangetragen wird – Inkunabeln wie Probleme der Forschung.<br />
Zunächst ist es die Kunst, die den Besucher beim Betreten<br />
des Speck’schen Domizils gleich hinter der Tür in großen Formaten<br />
empfängt: Cy Twombly, der Exlibris für die Büchersammlung<br />
schuf, Sigmar Polke, Marcel Broodthaers. Im anschließenden<br />
Raum keine Bilder mehr, nur noch Bücher, raumfüllend und<br />
deckenhoch in kontorähnlichen dunklen Holzregalen aufgereiht.<br />
Parkettboden, nichts Überflüssiges oder Nebensächliches, lediglich<br />
ein englischer Sekretär – eine Empfangs- und Lesebibliothek<br />
mit Blick in einen parkähnlichen Garten.<br />
Hier stehen die Zeitgenossen, das 19. Jahrhundert und die<br />
klassische Moderne, hier manifestiert sich Specks Literaturbesessenheit<br />
und sein enzyklopädisches Wissen: Bernanos, Bataille,<br />
Houellebecq, Ponge, Roussel, Walser, Wieland. Dazwischen<br />
die erste 1964 erschienene graufarbene Taschenbuch-Werkausgabe<br />
von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Sie<br />
ist gespickt mit weißen Zetteln, die alle medizinischen Stellen<br />
markieren. Dieses „l’univers medical bei Proust ist unglaublich.<br />
Die ‚Recherche‘ bietet das narrative medizinische Wissen und<br />
wird zu Recht von Walter Benjamin als ‚Wissen eines Gelehrten‘<br />
11.2012 <strong>Cicero</strong> 149