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T i t e l<br />
Das versiegelte Buch<br />
In der Schule war uns Hitler nur pädagogisch aufbereitet begegnet. Irgendwann haben<br />
wir weggehört. Über Churchills Memoiren kam das Interesse zurück – und damit die Frage<br />
auf: Warum darf man Hitler nicht lesen? Eine Rundreise zu Leuten, die diese Frage angeht<br />
Von Christoph Schwennicke<br />
W<br />
eihnachten vor einem Jahr<br />
stand ein kleiner Zweispalter<br />
im Guardian. In einer<br />
Filiale der Buchladenkette<br />
Waterstone im englischen<br />
Huddersfield hatte ein Mitarbeiter <strong>Hitlers</strong><br />
„Mein Kampf“ als „ideales Geschenk“ fürs<br />
Fest empfohlen. Die Kette entschuldigte<br />
sich für diese Geschmacklosigkeit.<br />
Mich ließ die Erklärung des Unglücksraben<br />
nicht los. Er hatte das Buch eine<br />
„Pflichtlektüre“ für alle genannt, „die eine<br />
der abscheulichsten Figuren der Weltgeschichte<br />
zu begreifen versuchen“. Eine<br />
schockierende Lektüre „und eine Warnung<br />
an alle kommenden Generationen“.<br />
Ist da nicht was dran? Ist es nicht relevant<br />
zu wissen, aus welcher geistigen Quelle<br />
sich die deutsche Katastrophe speiste?<br />
In Deutschland konnte das Buch in<br />
den vergangenen Jahrzehnten gar nicht<br />
erst in den Handel kommen. Weil Hitler<br />
zuletzt in München gemeldet war, hält<br />
der Freistaat Bayern das Urheberrecht bis<br />
zum 1. Januar 2016. Er verhindert, dass<br />
das Buch nachgedruckt wird. Es ist luftdicht<br />
verpackt, versiegelt.<br />
Wo keine Luft drankommt, da gärt es.<br />
Der Inhalt wird nicht mehr gekannt, man<br />
kann ihn ja nicht untersuchen. Stattdessen<br />
Mit den Mitteln der Kunst: Die Französin<br />
Linda Ellia bat 600 Menschen aus<br />
17 Ländern, eine Seite aus der französischen<br />
Fassung von <strong>Hitlers</strong> Hetzschrift „Mein<br />
Kampf“ künstlerisch zu verfremden<br />
und sie so zu „Unserem Kampf“ zu<br />
machen. Die Ausstellung „Notre Combat“<br />
war zuletzt in Nürnberg zu sehen<br />
wird er mystifiziert. Und die Frage kommt<br />
auf, was denn wohl passiert, wenn eines<br />
Tages die Verpackung aufbricht. Manche<br />
wollen den Inhalt gleich neu verpacken.<br />
Sicherheitshalber. Man weiß ja nicht, was<br />
passieren könnte.<br />
Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit.<br />
Endlich Luft dran zu lassen.<br />
Kann es sein, dass wir das schon längst<br />
hätten tun sollen? Dass seit Jahren ein Fehler<br />
gemacht wurde?<br />
1. Die Prägung<br />
In der Schule begegnete mir Hitler immer<br />
pädagogisch aufbereitet. Das aber sehr oft.<br />
Unser Geschichtsunterricht, das war in den<br />
Achtzigern, bestand grob gesagt aus drei<br />
Blöcken: der Steinzeit, dem Mittelalter und<br />
der Nazizeit.<br />
Bei der Nazizeit sagten die Geschichtslehrer<br />
stets dazu, dass Deutschland Verantwortung<br />
auf ewig trage: kein Verbrechen<br />
der Weltgeschichte vergleichbar, sechs<br />
Millionen ermordete Juden, ein Weltkrieg<br />
vom Zaun gebrochen, einen Kontinent in<br />
Schutt gelegt, eine junge Demokratie zerstört.<br />
Im Zentrum: Adolf Hitler.<br />
Es ist nicht einfach, das zuzugeben,<br />
aber es war so: Irgendwann konnten<br />
wir die Lektion nicht mehr hören. Wir<br />
32 <strong>Cicero</strong> 11.2012